Montag, Juli 15, 2019

Angela Merkel, das Zittern, die klare lichte Zukunft und: Sollten wir nicht alle mitzittern?

Warum mitzittern? 
Manche BürgerInnen zittern mit, weil sie denken: Was soll nur werden ohne "Mutti" Merkel, die immer alles gerichtet hat? Deshalb machen sie sich Sorgen um das Zittern und eine eventuelle Erkrankung der Kanzlerin.

Quelle
(Okay, andere freuen sich auch, aber von denen rede ich jetzt nicht.
Diese Aufkleber kann man übrigens bei Amazon kaufen, 50 Stück für 4 Euro 90. Doch von den KundInnen, die diese Aufkleber kaufen, möchte ich nicht sprechen.)



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Es gibt vielleicht noch andere Gründe, um wegen der Zukunft zu zittern. Zittern alleine hilft jedoch vielleicht nicht wirklich weiter.

Fangen wir an im Juni 1940. Paul Mason  erzählt (a.a.O. Kapitel 16):
»Haben Sie nicht den Eindruck«, fragte der englischer Dichter, Autor und Hochschullehrer Stephen Spender (*1909 in London; †1995 ebenda) seinen Kollegen George Orwell, »dass es Ihnen in den vergangenen zehn Jahren besser als zum Beispiel der Regierung gelungen ist, die Entwicklungen vorherzusagen?« -
Orwell, der seit 1936 einen Krieg mit Deutschland kommen sah, antwortete Spender: »Ich denke, Menschen wie wir verstehen die Situation besser als die sogenannten Experten. Aber das liegt nicht daran, dass wir in der Lage wären, bestimmte Ereignisse vorherzusagen. Vielmehr verstehen wir, in welcher Art von Welt wir leben.«


Mason fährt fort:
Die liberale Mitte unserer Zeit besitzt diese Fähigkeit nicht. Angesichts des Scheiterns der freien Marktwirtschaft und des Vormarschs von Figuren wie Trump wirken die Intellektuellen und Politiker des Establishments genauso ahnungslos wie zu Orwells Zeiten. Sie hatten geglaubt, in einem System zu leben, das sich selbst festigte. Stattdessen untergrub es sich selbst.



Mason spricht in seinem neuen Buch vom Scheitern der "freien Marktwirtschaft"/des "Neoliberalismus" und davon, dass viele seiner Geistes-Verwandten und Zeitgenossen, auch Linke/linke Liberale/die liberale Mitte, dieses Scheitern noch nicht bemerkt haben und meinen, alles könne mehr oder weniger so weiter gehen wie bisher.

1940:
Selbst im Zweiten 'Weltkrieg beschäftigten sich die Völker nicht mit den globalen Vorgängen, bis sie selbst getroffen wurden. Auf dem Höhepunkt der Krise von Dünkirchen schrieb Orwell in sein Tagebuch: »Die Leute sprechen jetzt ein wenig mehr über den Krieg, aber immer noch sehr wenig. Wie bisher hört man in Pubs usw. keine Kommentare dazu. Gestern Abend war ich mit Eileen im Pub, um uns die Neun-Uhr-Nachrichten anzuhören. Die Kellnerin hätte das Radio nicht eingeschaltet, wenn wir sie nicht darum gebeten hätten, und allem Anschein nach hörte niemand zu.« [...]

Die Gäste in Orwells Pub wussten nichts über die Geschehnisse, die ihr Leben verändern würden.
Wir hingegen können jeden überflüssigen Gedanken Donald Trumps auf Twitter lesen. Wir verfolgen Luftangriffe und Terroranschläge live im Fernsehen. [...] Daher empfinden wir wahrscheinlich größere Angst als die Generation, die im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs lebte, und unsere Kampf-und-Flucht-Instinkte sind geschärft.
(a.a.O.)

Der Brite Mason erwähnt 1940 und Dünkirchen, weil im Juni 1940 die nordfranzösiche Stadt Dünkirchen von der Deutschen Wehrmacht eingenommen worden war. Zuvor mussten sich 330.000 britische Soldaten von dort zurück auf ihre britische Insel retten, weil sie mit dem deutschen Angriff auf die Benelux-Länder und Frankreich nicht gerechnet hatten und daher nicht ausreichend vorbereitet waren. 

Auf die Gegenwart angewandt, bedeutet es zu akzeptieren, dass die wachsende Spannung innerhalb des Systems zu einer Explosion führen wird, selbst wenn wir nicht vorhersagen können, wie diese Explosion aussehen wird. Die Eliten, die in den vergangenen vier Jahrzehnten die Geschicke der Welt gelenkt haben, besitzen kein Rückgrat; sie sind zu jedem Kompromiss mit der autoritären Rechten imstande und werfen ihre demokratischen Prinzipien bereitwillig über Bord. Das ist eine wertvolle Erkenntnis, solange sie uns nicht lähmt. 
Die Dynamik, die zum Brexit, zu Trumps Wahlsieg und zum Vormarsch unverhohlen rassistischer Parteien in Italien, Schweden, Ungarn und den Niederlanden geführt hat, wird nicht einfach verschwinden. Der Ruf der Alt-Right nach einem zweiten amerikanischen Bürgerkrieg wird nicht verhallen. Die Bilder gefolterter Häftlinge und verwüsteter Städte werden nicht verblassen.  (a.a.O.) [...]
 Die Autoren aus der Generation, die den Faschismus überlebte, darunter Arendt, Fromm und Orwell, waren fasziniert von der Frage, woher faschistische Einstellungen als psychologisches Massenphänomen kommen. Heute zählt es zu den wichtigsten Aufgaben von Progressiven und Demokraten, zu verhindern, dass die faschistische Geisteshaltung erneut von Millionen Menschen Besitz ergreift. [...]

Die größte Gefahr ist heute nicht, dass die faschistischen Bewegungen groß genug werden, um Wahlen zu gewinnen oder die Macht zu ergreifen.
  • Die größte Gefahr ist, dass sie eine gemeinsame intellektuelle Basis mit Mainstream-Konservativen finden, was die Bereitschaft der gemäßigten Rechten schwächen könnte, sich den Forderungen der Faschisten zu widersetzen, und als Ausrede für die Ausbildung der konstitutionellen Demokratie dienen würde.
 So weit Mason. Mehr dazu im Buch.

Siehe auch:
Quelle