Samstag, April 17, 2021

Sahra Wagenknecht, Lifestyle-Linke, Klassismus und Roma-und-Sinti-Schnitzel

Gedöns 1998.  
Gerhard Schröder - Sozialdemokrat, Sozialist (im weiteren Sinne),  von 1978 bis 1980 Bundesvorsitzender der Jusos, von 1999 bis 2004 Vorsitzender der SPD, Bundeskanzler von Oktober 1998 bis November 2005.
Gleich zu Beginn seiner Laufbahn als 7. Kanzler der Bunderepublik - anlässlich der Vereidigung des Bundeskabinetts - tat er seinen legendären Ausspruch von „Frauenpolitik und so Gedöns" und meinte damit das Bundesministerium für Familie, Senioren [!sic; so heißt es auch heute noch] , Frauen und Jugend.

Gedöns - laut Duden - "für den alltäglichen Gebrauch nicht unbedingt notwendige und deshalb als überflüssig erachtete Gegenstände". Synonyme - laut Duden - :  Brimborium, Heckmeck... __________________________________

Sahra Wagneknechts Gedöns 2021.
Sahra Wagenknecht, Spitzenkandidatin für die Partei DIE LINKE in NRW bei den Bundestagswahlen im Herbst 2021 - links, auch Sozialistin (im weiteren Sinne) - spricht ebenfalls von Gedöns. Bei ihr heißt  Gedöns allerdings "Marotte" oder "Rummel" oder "Spuk von Diversity und Frauenquoten". Davon handelt ihr neues Buch (2021).
(Eine Marotte ist - laut Duden -  eine "seltsame, schrullige Eigenart, Angewohnheit". Synonyme: Eigentümlichkeit, fixe Idee.)
Diese Marotten stammen, so Sahra Wagenknecht, von degenerierten „Lifestyle-Linken“, die den Bezug zu den wahren gesellschaftlichen Problemen verloren haben. 
 
Zu diesem Spuk gehören zum Beispiel:
  •  Fridays for Future ("die Bewältigung der Klimakrise ist die Hauptaufgabe des 21. Jahrhunderts. Wir fordern eine Politik, die dieser Aufgabe gerecht wird.")
  • Black LivesMatter (Thema Rassismus, "lokale Macht aufbauen, um in die Gewalt einzugreifen, die schwarzen Gemeinschaften durch den Staat und Bürgerwehr zugefügt wird." ) 
  • das Seebrücke - ("Bündnis(für die Rechte von Flüchtenden in Deutschland")
  • Unteilbar“-Demonstrationen ("für Gleichheit und soziale Rechte, gegen Antisemitismus ...")
  • Fragen des Lebensstils (Gender-Sternchen, Gender Studies, Gender-Debatte)
  • Fragen der Konsumgewohnheiten (Veggie-Day...) und
  • moralische Haltungsnoten. (Cancel CulturePolitical Correctness )
Sahra Wagenknecht: 
Der Lifestyle-Linke lebt in einer anderen Welt als der traditionelle Linke und definiert sich anhand anderer Themen. Der Lifestyle-Linke oder auch "Linksliberale" ist: 
  • vor allem weltoffen
  • und selbstverständlich für Europa, 
  • auch wenn jeder unter diesen Schlagworten etwas anderes verstehen mag. 
  • Er sorgt sich ums Klima
  • und setzt sich für Emanzipation ein,
  • für Zuwanderung
  • und für sexuelle Minderheiten. __________________________________________________

Lifestyle-Linke versus Traditionelle Linke?

Dem gegenüber steht, so Sahra Wagenknecht, die traditionelle Linke, der sie sich verbunden fühlt. 
Ihr geht es (grob gesagt) um Sozial-Politikik gegen Identitäts- und Kulturpolitik und anderes Gedöns ;-). Sie schreibt:

"Links, das stand einmal 

  • für das Streben nach mehr Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit, 
  • es stand für Widerständigkeit, für das Aufbegehren gegen die oberen Zehntausend 
  • und das Engagement für all diejenigen, die in keiner wohlhabenden Familie aufgewachsen waren und sich mit harter, oft wenig inspirierender Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen mussten. 
  • Als links galt das Ziel, diese Menschen vor Armut, Demütigung und Ausbeutung zu schützen, 
  • ihnen Bildungschancen und Aufstiegsmöglichkeiten zu eröffnen, 
  • ihr Leben einfacher, geordneter und planbarer zu machen. 
  • Linke glaubten an politische Gestaltungsfähigkeit im Rahmen des demokratischen Nationalstaats
  • und daran, dass dieser Staat Marktergebnisse korrigieren kann und muss."
"Da der Lifestyle-Linke mit der sozialen Frage persönlich kaum in Kontakt geraten ist, interessiert sie ihn auch meist nur am Rande. Also, man wünscht sich schon eine gerechte und diskriminierungsfreie Gesellschaft, aber der Weg zu ihr führt nicht mehr über die drögen alten Themen aus der Sozialökonomie, also Löhne, Renten, Steuern oder Arbeitslosenversicherung."
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Sahra Wagenkencht hat ja recht:

"Bereits in den 1830er Jahren wurden Klassenunterschiede als „Classism“ bezeichnet. Jetzt endlich wird Klassismus auch hier in den Medien diskutiert." (Andreas Klemper) -
Klassismus bezeichnet Unterdrückung aufgrund des sozialen Status, Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft oder der sozialen Position,  und er richtet sich meist gegen Angehörige einer „niedrigeren“ sozialen Klasse.

Die Klassismustheorie unterscheidet zwischen Diskriminierung gegenüber ArbeiterInnen (working class) und armen Menschen (poverty class): GeringverdienerInnen, Erwerbslose, Wohnungslose oder Ar­bei­te­rIn­nen­-Kin­der ... .  .[Quelle u.a.] 

Andreas Kemper:
Was Klassismus [zum Beispiel] im Bildungssystem konkret heißt,

  • das "führt pars pro toto eine Studie vor Augen, die Schulen in Wiesbaden untersucht hat. Das Ergebnis: Die Schulnote 2,5 führt bei 70 Prozent der privilegierten Schü­le­r*in­nen zu einer Gymnasialempfehlung, aber nur bei 20 Prozent der nichtprivilegierten.
  • Nicht die Leistung, sondern der Bildungsstand und das Einkommen der Eltern spielen eine wesentliche Rolle bei der Verteilung der Bildungschancen.
  • Die Iglu-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) zeigte 2016 bundesweit einen ähnlichen Befund: Bei gleicher Lesekompetenz und den gleichen kognitiven Fähigkeiten erhalten Kinder aus privilegierten Elternhäusern gegenüber denen aus der Arbeiterklasse 3,37-mal so oft eine Gymnasialempfehlung. 2001 betrug dieser Bevorteilungsfaktor noch 2,63.
  • Die strukturelle Benachteiligung von Ar­bei­te­r*in­nen­kin­dern nimmt nicht ab, sie wächst." [Quelle] 
Oder - ein anderes Beispiel: Damals, nach der "Wende". - Die FacharbeiterInnen in den "neuen" Bundesländern. - Eisenach, "die Wartburgsstadt".


"Wartburgstadt" nennt sich das thüringische Eisenach heute. Wegen der Wartburg über der Stadt, auf
der Martin Luther um 1500 versteckt wurde und wo er Teile der Bibel in die deutsche Sprache übersetzte.  

In Eisenach wurde - womit die offizielle Webseite der Stadt hinter dem Berg hält - zu DDR-Zeiten der "Wartburg" hergestellt:
Der VEB Automobilwerk Eisenach (kurz AWE) war ein Automobilhersteller im thüringischen Eisenach. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Werk verstaatlicht. 1953 erhielt es den endgültigen Namen: VEB Automobilwerk Eisenach und produzierte ab 1955 den Wartburg.
1991 wurde das Unternehmen von der Treuhandanstalt geschlossen. Gleichzeitig eröffnete Opel ein Werk in Eisenach, das die Tradition der Autoindustrie in der Stadt fortführte. [Wikipedia]

Die Wartburg-Werke der DDR hatten ca. 10.000 ArbeiterInnen. Davon suchte sich Opel nach der "Wende", dem "Aschluss", der "Wiedervereigung" ... die 1000 jüngsten und qualifitiertesten aus; die restlichen 9000 wurden - salopp gesagt - in Qualifizierungsmaßnahmen geparkt und anschließend zum Müll-Aufsammeln geschickt. ---   

Eigentlich Wasser auf die Mühlen der Linken?- 
Doch warum wählen diese Menschen nicht  "links"?

Eisenach Kommunalwahl 2014 und 2019. Quelle: Wikipedia

Aus einem Gefühl von Demütigung, Missachtung und Ohnmacht erwächst schnell Wut. Und der Ruf nach einer einfachen Lösung, der Ruf nach einer Politik des starken Mannes, nach einem starken Mann, der auf die Pauke haut, den "Rächer der Enterbten", der die Verhältnisse mit einem Schlag wieder richtig stellt, die Würde wieder herstellt.
 
Dietmar Bartsch, 63 Jahre alt,  wurde zusammen mit Janine Wissler zum Spitzenduo der Linken für die Bundestagswahl 2021 gewählt. Bartsch war in der DDR in der SED, danach in der PDS; 2017 hatte er die Linke zusammen mit Sahra Wagenknecht im Wahlkampf angeführt. In einem (wenig motivierenden und wenig motivierten) Interview in der taz vom 11. Mai 2021 nennt er seine Vermutung, warum die Linke vor sich hindümpelt statt dass ihr die Massen zuströmen. - Und zeigt nicht die geringste Perspektive auf, außer dass Karl Marx wiederkehren sollte, um einen theoretischen Überbau für die Linke zu liefern. Man könnte auch im Jugendsprech sagen: "KP. Ich habe auch keinen Plan." 

"... das ist ein generelles Problem der politischen Linken. Ob man nach Italien, Spanien oder nach Frankreich schaut – sozialdemokratische und sozialistische Parteien sind vielfach in einer Krise. Dafür gibt es offensichtlich Gründe.
Wir müssen uns fragen, ob die Linke die richtigen Antworten auf die Gesellschaftsveränderungen und die Herausforderungen der Krisen des 21. Jahrhunderts hat. Wir müssen aus den sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen Konsequenzen ziehen. Eigentlich brauchen wir einen neuen Marx. [...] Der fehlt ein Stück weit."
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Was Sahrah Wagenknecht schreibt ist ja teilweise unbestreitbar. 
Zum Beispiel die Sache mit dem Zigeunerschnitzel und dem Schnitzel mit Sauce ungarischer Art:
Menschen, die prekär beschäftigt sind (PaketbotInnen, Schlachter in den Schlachthöfen...), die vielleicht ungeschützt und unfreiwillig in einem Betrieb nebeneinander stehen müssen.
Kleine Selbstständige, die keine gewerkschaftliche Vertretung haben, ihre Arbeit in Corona-Zeiten nicht ausüben konnten (in Gaststätten, Imbissbuden, Nagelstudios...), ihre Ersparnisse angreifen mussten oder gar verloren. haben. KrankenpflegerInnen, die schon immer zu schlecht bezahlt waren und nach der Finanzkrise und nun in der Pandemie in den oft kaputt-gesparten deutschen oder italienischen Krankenhäusern bis an die Genzen der Belastbarkeit oder darüber hinaus schuften. - Die 30.000 oder 40.000 Lufthansa-Angestellten (1/3 aller Angestellten heißt es) auf allen Ebenen, die nun überflüssig sind oder sein werden (im Cockpit oder am Gepäckförderband im Flughafen). --- Sie alle haben derzeit elementarere Sorgen als ihr Zigeunerschnitzel "politisch korrekt" zu benennen. - Und manch eine/r fasst sich an den Kopf.
 
Das Eine tun und das andere nicht lassen
Wagenknecht arbeitet (weiter?) an der Spaltung der verschiedenen Flügel/Fraktionen der Linken (im weiteren Sinne).
Statt Gräben zuzuschütten vertieft sie die Spaltung innerhalb der Linken. Mit Worten und mit Werken. Mit Worten in ihrem Buch, indem sie die andere Seite, die sich mit kulturellen Themen beschäftigt, als "Lifestyle-Linke" verhöhnt, und mit Taten, indem sie z.B. im Jahr 2018 mit einer eigenen Initiative, "aufstehen", eher Verwirrung als Einigkeit stiftete.
"Das Gegenteil von `gut` ist `gut gemeint`". -  Sagt man.
Sätze wie "getrennt marschieren - vereint schlagen" / "Das Eine tun und das Andere nicht lassen" scheinen ihr fremd?

Vielleicht liegt es ja in der Familie.

Oskar Lafontaine (ihr Ehemann) - Mitte/Ende der 1980er Jahre SPD-Ministerpräsident des Saarlandes, 1990 Kanzlerkandidat der SPD, von 1995 bis 1999 SPD-Vorsitzender, ab September 1998 Finanzminister (unter SPD-Bundeskanzler Schröder) - legte wenige Monate danach, im März 1999, überraschend alle politischen Ämter nieder, inklusive Bundestagsmandat.
Er trat nun als Kritiker der rot-grünen Regierung auf. ("Die schärfsten Kritiker der Elche...." . Sagte ...

2005 wechselte Lafontaine dann von der SPD zur neu gegründeten Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit (WASG). - 
Inhaltlich mag Lafontaine - wie heute seine Frau Sahra - nicht ganz falsch gelegen haben.
Politisch sorgt bis heute der alte Streit zwischen Schröder und Lafontaine dafür, dass die Atmosphäre innerhalb der SozialistInnen (im weiteren Sinne) vergiftet ist und ein breites "linkes" Regierungsbündnis in Deutschland bis auf den heutigen Tag immer mehr verhindert hat.
"Das Gegenteil von `gut` ist `gut gemeint". - (Sagt man.)
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Die jüdische Berlinerin Rahel  Mann ist jetzt 84 Jahre alt. Als sie 5 Jahre alt war, wurde sie - in Berlin - ein Jahr lang in einem Keller hinter einem Schrank vor den Nazis versteckt. Heute beunruhig sie der Rechtsruck in Deutschland und anderen Ländern Europas. Sie kenne einige Menschen, die bereits auf gepackten Koffern sitzen:
"Ich denke, dass sich die Geschichte wiederholen wird." - 
"Und ich bin froh, dass ich das nicht mehr erleben muss."--- [Quelle]
Den letzten Satz kann man so oder so verstehen.
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Und was macht "die Linke" im Vereinigten Königreich?
LONDON | Bei den Kommunal- und Regionalwahlen verliert die Labour-Opposition alte Hochburgen. Die Sieger heißen Konservative und Grüne. „Wir haben das Vertrauen der Arbeiterklasse verloren“, lamentierte Keir Starmer schon am Freitagabend (7. Mai 2021). Zu diesem Urteil war der Chef der britischen Labour-Opposition nach dem Ergebnis der parlamentarischen Nachwahl in Hartlepool gekommen. Labour hatte dort ihre jahrzehntelange Vorherrschaft an die konservativen Tories abgeben müssen. Ben Houchon, der konservative Regionalbürgermeisters für die Region Tees Valley, in der sich Hartlepool befindet, wurde sogar mit über 72 Prozent der Stimmen wiedergewählt – die Gegend im Nordosten Englands war früher eine der stärkten Labour-Hochburgen Großbritanniens. Immer wieder wurde vor der Abstimmung am Donnerstag auf den Straßen Hartlepools das erfolgreiche Impfprogramm des Premiers Boris Johnson gelobt. Und: der vollzogene Brexit...

Und in Spanien?
MADRID | 5. Mai 2021. Die konservative Präsidentin der spanischen Hauptstadtregion Madrid, Isabel Díaz Ayuso, gewann die vorgezogenen Neuwahlen haushoch. Ihre Partido Popular (PP) erzielte 44,7 Prozent der Stimmen. Das sind 22,5 Prozent mehr als noch vor zwei Jahren. Statt mit 30 Abgeordneten wird die PP mit 65 in das künftige Regionalparlament einziehen.
Die Menge schwenkte rot-gelb-rote Spanienfahnen und die blauen Parteiwimpel. „Freiheit! Freiheit!“, skandierten sie. Dies war der Slogan Ayusos, die die Wahlen zu einer Art Abstimmung zwischen ihrer laxen Anti-Corona-Politik mit offenen Kneipen und der für den Alarmzustand verantwortlichen Linksregierung Spaniens unter dem Regierungspräsidenten Pedro Sánchez der sozialistischen PSOE gemacht hatte.
Ayuso fehlen nur vier Abgeordnete zur absoluten Mehrheit.
Und einer nahm in der Wahlnacht gar den Hut. Pablo Iglesia von Unidas Podemos [Quelle]  

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Zur Vertiefung:


SWR2 forum - 30.4.2012 - 45 Minuten. Download