UDOPIA 04

Einige Notizen zum Tagesgeschehen, zu Abendland und Morgenland, zur (De-)Regulierung der Wirtschaft, zu Arm und Reich, Krieg und Frieden, Liebe und Hass, Glaube und Unglaube, homo und hetero, jung und alt, Gesundheit und Krankheit, Ost und West ...

Donnerstag, Oktober 27, 2016

"... wenn der Preis dafür ist, kein Sozialdemokrat mehr zu sein.“

„Es hat keinen Sinn, eine Mehrheit für die Sozialdemokraten zu erringen, wenn der Preis dafür ist, kein Sozialdemokrat mehr zu sein.“


Quelle
Der Satz wird oft zitiert, er erklärt sich wohl aus sich selber heraus. - Der Kontext des Zitates wird allerdings meistens nicht genannt. -

Von 1976 bis 1992 war Willy Brand auch Präsident der Sozialistischen Internationale (SI), einem weltweiten Zusammenschluss von sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien und Organisationen. Insgesamt gehören ihr heute 168 Parteien und Organisationen an, der ständiger Sitz ist London. [Quelle] 


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Was würde Willy Brandt wohl zur heutigen Situation der Sozialdemokratie sagen?

Vielleicht:
  • "Es hat keinen Sinn, eine Mehrheit für die SozialdemokratInnen zu erringen, wenn sie keine SozialdemokratInnen mehr sind."
Oder:
  • "Man kann keine Mehrheit für die Sozialdemokratie gewinnen, wenn es keine (oder kaum) sozialdemokratischen Parteien mehr gibt." 
Wohin man schaut:
Die sozialdemokratischen Parteien zerlegen sich überall selber (in Deutschland seit Schröder, in England seit Tony Blair, in Frankreich seit Mitterand, in Griechenland durch die Papandreou-Dynastie, in den USA seit Familie Clinton - wenn man das denn an Personen festmachen möchte...).

Zum Beispiel:
In Baden-Württemberg hat sie SPD im März 2016 bei den Landtagswahlen das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte eingefahren und sich im Vergleich zu 2011 fast halbiert auf 12,7%. (1964 und 1972 lag sie noch über 37%, auch danach immer mal wieder über 30%).

Jüngst, bei den Parlamentswahlen in Litauen im Oktober 2016, haben die Sozialdemokraten statt 38 nur noch 17 Mandate bekommen, also sich mehr als halbiert.

In Spanien
konnte man in den letzten Monaten live mit verfolgen, wie sich eine "Sozialistische Arbeiterpartei" (PSOE) selber demontiert.


Die sozialdemokratischen "Sozialisten" (PSOE) haben am 23. Oktober 2016, einem Sonntag, beschlossen, dem konservativen Ministerpräsident Mariano Rajoy (PP) durch Stimmenthaltung im Parlament erneut an die Regierung zu verhelfen.

"Dank der PSOE bleibt auch die korrupteste Regierung im Amt, die Spanien seit dem Rückkehr zur Demokratie je hatte. Hunderte, teils namhafte, Parteimitglieder stehen in Korruptionsverfahren vor Gericht. Im größten Prozess geht es um die illegale Finanzierung der PP in den letzten Jahrzehnten. Was dort bekannt wird, erinnert eher an eine Mafia als an eine politische Kraft."
Warum hat die PSOE nicht versucht, eine eigene alternative Mehrheit mit der traditionellen Linkspartei Izquierda Unida (IU) und der neuen Linkspartei Podemos auszuloten? 

"Die Antwort: Die spanische Wirtschaft wollte auf keinen Fall eine Regierungsbeteiligung von Unidos Podemos, die ein Ende des Sparkurses fordern und die Rücknahme von Arbeitsmarktreformen, die massive Verschlechterungen für Arbeitnehmer brachten. Die Sozialisten haben den Großunternehmen diesen Gefallen getan. Die WählerInnen werden ihnen das nicht verzeihen. Im Laufe der Krise hat die PSOE bereits knapp die Hälfte ihrer WählerInnen verloren. 
Zu Recht droht ihr das Schicksal der griechischen Schwesterpartei Pasok, die zur Unkenntlichkeit verkommen ist." [Quelle]
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Ach, vielleicht könnte Willy Brandt jetzt sagen:
„Es hat keinen Sinn, eine Mehrheit für die Sozialdemokraten zu erringen, wenn... "

Siehe auch: Von Abgehängten und Arbeiterparteien...
Eingestellt von udopia-04 um 13:53 Keine Kommentare:

Donnerstag, Oktober 13, 2016

Vom Rechtspopulismus, Abgehängten, Arbeiterparteien und der Würde des Menschen

Warum in Frankreich ehemalige kommunistische StammwählerInnen heute den Front National und Marie Le Pen wählen, hat der französische Philosophie-Professor und Soziologe Diedier Eribon - auch am Beispiel seiner eigenen Familie - in seinem jungsten Buch sehr anschaulich beschrieben.

Das erklärt zugleich auch, warum bei den letzten Landtags-Wahlen 2016 in Deutschland so viele ArbeiterInnen und Arbeitslose zur AfD gewandert sind, so dass manche meinen: Die AfD ist oder wird die neue deutsche Arbeiter-Partei.
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Kurz gefasst:

"Wer erfüllt heute die Funktion, die damals »die Partei« [die Kommunistische Partei Frankreichs] innehatte?
Von wem dürfen sich die Ausgebeuteten und Schutzlosen heute vertreten und verstanden fühlen? An wen wenden und auf wen stützen sie sich, um politisch und kulturell zu existieren, um Stolz und Selbstachtung zu empfinden, weil sie sich legitim, da von einer Machtinstanz legitimiert, fühlen? [...]


25 Prozent der Franzosen werden nächstes Jahr im ersten Wahlgang für Marine Le Pen stimmen. Meine Mutter, meine Brüder, viele ihrer Bekannten werden voraussichtlich für den FN stimmen. Wenn man sie fragt, warum, sagen sie, dass es schlimmer nicht werden kann und dass sie nichts zu verlieren haben. 
So widersprüchlich es klingen mag, bin ich mir doch sicher, dass die Zustimmung zum Front National zumindest teilweis als eine Art politische Notwehr der unteren Schichten interpretieren muss. Sie versuchten, ihre kollektive Identität zu verteidigen, oder jedenfall eine Würde, die seit je mit Füßen getreten worden ist und nun sogar von denen missachtet wurde, die sie zuvor repräsentiert und verteidigt hatten." (Didier Eribon)
Ja, es geht sowohl um erlebte und/oder befürchtet Armut (z.B. im Rentenalter), aber auch um die menschliche Würde.

Schon 1997 schrieb der (inzwischen aus der katholischen Kirche ausgetretene) katholische Theologe und Psychotherapeut Eugen Drewermann:
"Gewiss, schon das natürliche Mitleid drängt dazu, das Elend der Armut zu bekämpfen. 
Doch wird man bald geststellen müssen, dass es durchaus nicht genügt, die äußeren Lebensumstände zu bessern, es gilt den Menschen von innen her ihre Würde zurück zu schenken."
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 Wer vertritt also "die Abgehängten"? 

Von den Grünen in Deutschland hat Solches wahrscheinlich nie jemand erwartet. Sie sind die Partei der liberalen, ökologischen, gut-bürgerlichen Mittelschicht. -
Ja, "Gewiss, schon das natürliche Mitleid drängt dazu, das Elend der Armut zu bekämpfen", aber die Grünen waren nie "DIE Partei" der Arbeiterklasse, der Abgehängten, sie wollten es nie sein und werden es nie sein.
Böse Zungen sagen daher gerne: »Grüne können das Wort "sozial" nicht buchstabieren.«


Und "die Linken" in Deutschland,
also z.B. früher die KPD: 1918 gegründet, 1956 verboten. Warum, das weiß man seit dieser Woche noch etwas genauer: Ende der 1950er-Jahr hatten drei Viertel der Führungskräfte im westdeutschen Justizministerium eine NS-Belastung. Bis 1973 hatte es im Bonner Justizministerium etwa 170 Abteilungs-, Unterabteilungs- und Referatsleiter gegeben; 53 Prozent davon waren ehemalige NSDAP-Mitglieder. - Zu diesem Ergebnis kam jüngst die Kommission, deren Abschlussbericht, "Die Akte Rosenburg" am10. Oktober 2016 in Berlin vorgestellt wurde. „Diese personelle Kontinuität hat den demokratischen Neubeginn belastet und verzögert“, so Justizminister Heiko Maas (SPD).


Dann die SPD:
auf Deutsch erschienen 1980.
(Das war damals sehr hipp.)
Sie hat sich schon lange - ebenso wie die KPF un die Sozialisten in Frankreich - von der Arbeiter- und Arbeitslosenklasse verabschiedet.  (Didier beschreibt auch diesen Prozess - für Frankreich -  sehr nachvollziehbar.)

In Deutschland stehen für den Abschied die Namen Schröder/Fischer mit der Agenda 2010 (am 14.3.2003 von Kanzler Schröder verkündet), in Frankreich die Präsidentschaft des Sozialisten Francois Mitterand (ab 10. Mai 1981), in England der Wechsel und Tony Blair von Labour zu New Labour  (Schröder-Blair-Papier von 1999). 
Die Partei Die Linke, immer noch teilweise belastet durch die SED-Vergangenheit und hat sich noch nicht wirklich gefunden und etabliert.

In England
"Der Weg ins Nichts. -
Warum keiner mehr
von Tony Blairs Drittem Weg redet -
vor allem Tony Blair nicht."
war Anthony Giddens der Hof-Prophet Tony Blairs für dessen New-Labour-Politik. Sein Buch "Der Dritte Weg" erschien 1998 in England und ein Jahr später in Deutschland. Die Idee: Keine "klassische Sozialdemokratie" mehr! Aber auch keinen Neoliberalismus! Sondern ein bisschen von beiden sozusagen. Keine Ideologie mehr, weder linke noch rechte, "Wichtig ist, was funktioniert", so Tony Blair, (um reich zu werden und viel Geld zu verdienen).

Tony Blair hat sich vom Proletariat verabschiedet (Gorz), sich auf den Dritten Weg gemacht (Hidddens), und:
Er hat es geschafft. Er gilt heute als "geldgierige Type" und hat ein privates Vermögen angehäuft, irgenwas zwischen 20- und 100-Millionen Pfund, sagt man. - (Ein britisches Pfund ist aktuell etwas 10% mehr wert als ein Euro:)

Schon 3 Jahre nach dem Erscheinen von Giddens Buch, am 7. Juni 2001 schrieb DIE ZEIT:
Der Weg ins Nichts. - Warum keiner mehr von Tony Blairs Drittem Weg redet - vor allem Tony Blair nicht. [...]
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Der Journalist Pickert beschreibt die Lage heute so:
"Nie zuvor aber seit dem Ende des Nationalsozialismus scheinen so viele so vehement das demokratische Institutionensystem abzulehnen wie jetzt – ob nun in den USA oder in Europa.

Die Grundlagen für diese Ablehnung wurden in den 90er Jahren gelegt, als sich die Ideologie des Staatsrückzugs zugunsten der „Marktkräfte“ selbst in den recht fortschrittlichen Sozialstaaten Westeuropas festsetzte.
In den USA regierte der Demokrat Bill Clinton – und die von ihm verantwortete Deregulierung der Finanzmärkte ermöglichte überhaupt erst viele der späteren Verwerfungen. In Deutschland verabschiedete eine rot-grüne Regierung die Agenda 2010. Fakt war, dass die Politik, die repräsentative Demokratie, damals freiwillig die Funktion abgab, jenen Ausgleich sicherzustellen, der die Gesellschaften vor dem Auseinanderfallen bewahrt."
Und er empfiehlt ein Buch. Über weiße Proletarier in den USA. Das sind die, die jetzt Trump als Präsidenten der USA sehen möchten.

Pickert (a.a.O.):
"Der US-amerikanische Autor J. D. Vance hat mit seinem autobiografischen Buch „Hillbilly Elegy“ vor einigen Monaten eine anschauliche Beschreibung vorgelegt, wie wenig die gelebte Realität relevanter Gesellschaftsteile noch Eingang in den Diskurs der politischen Elite findet.
Schlimmer noch: Verarmte, bildungsferne Weiße sind inzwischen so ziemlich die Einzigen, die man diskriminieren darf, ohne medial geschlachtet zu werden. Keine Comedysendung kommt ohne herablassendes Sich-lustig-Machen über ungebildete Weiße aus, ob sie nun zu Trump-Veranstaltungen in den USA pilgern oder zur Pegida-Demo nach Dresden. 

Wundert sich jemand, dass sie gut finden, wenn einer sie mal ernst nimmt?"

Ja, es geht auch um die Würde des Menschen. Siehe oben.

Zum gleichen Thema - weiße Arbeiterklasse - erschienen 2016 zwei weitere Bücher:


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Christine Nöstlinger,
heute (13. Oktober 2016) vor 80 Jahren in Wien geboren, mag heute lieber Kinder trösten als ihnen den pädagogischen Zeigefinger hochhalten.

Trotzdem hat sie sich in diesen Tagen zur politischen Lage und zur Flüchtlingsfrage geäußert:


Wenn ich mir zum Beispiel die Situation mit den Flüchtlingen ansehe: Da verbreiten irgendwelche Deppen im Internet einen völligen Blödsinn, und zwei Tage später hört man ihn schon im Kaffeehaus. Wie gern die Leute schiache Sachen weitererzählen! Da kann man doch nur traurig sein. Warum sollte sich eine Österreicherin bedroht fühlen, wenn irgendwo in drei Kilometern Entfernung 80 Flüchtlinge untergebracht werden sollen?

Glauben Sie, dass es dabei um Flüchtlinge geht – oder liegt da eigentlich etwas anderes drunter?

Wenn man es nicht so bös beurteilt, ist das die Enttäuschung bei den Leuten. Es ging 20, 25 Jahre lang immer bergauf. Sie haben immer mehr bekommen, sie konnten sich immer mehr leisten, und seit zehn Jahren geht das nicht mehr. Jetzt merkt man den Frust und die Wut darüber. Die Decke der Zivilisation ist sehr dünn, und sie kriegt gerade überall Löcher. [Das ganze Interview]



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Freitag, Oktober 07, 2016

"Links" oder "Rechts" ist (manchmal) eine blöde Frage. - Frau Wagenknecht, Frau Petry, Frau Clinton und Herr Eribon.

Links-Rechts-Test:
  • Ist pro Putin links oder kontra Putin? 
  • Ist pro EU links oder kontra EU? 
  • Ist es links, europäische Entscheidungen ins Nationale zurückzuverlagern? 
  • Ist erneuerbare Energie links oder Verteidigung von Kohle? [Quelle]

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Quelle
»Es war ein sehr bemerkenswertes Doppelinterview, das an diesem Wochenende in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschien und das vermutlich in beiden Parteien, der AfD und der Linken, noch für einigen Wirbel sorgen wird.
[...] die letzten Landtagswahlen haben gezeigt, dass es zumindest in der Wählerschaft der beiden Parteien starke Überschneidungen gibt: in großen Scharen wanderten da Linkswähler zur AfD ab. [...]
  
Frau Wagenknecht: "Wer sein Gastrecht missbraucht, hat es verwirkt."

Dieses Zitat steht auch am Anfang des Doppelinterviews und gibt Wagenknecht die Gelegenheit ihre umstrittene Position noch einmal zu verdeutlichen: "Wenn so viele Menschen nach Deutschland kommen wie infolge von Merkels Politik im vorigen Herbst, dann muss man auch dafür sorgen, dass Integration gelingt und die notwendigen Wohnungen und Arbeitsplätze vorhanden sind." Entscheidend sei jedoch, den Menschen in den Herkunftsländern zu helfen.

"Damit haben Sie gerade AfD-Positionen referiert", jubelt Petry.

Wenn die "Rechtsbeugung" durch die Regierungsseite oder die Ausnutzung des Asylrechts durch "Armutsmigranten" dazu führe, dass es in Deutschland einen Konkurrenzkampf unter den sozial Schwachen gebe, könne das doch auch nicht im Interesse einer linken Partei sei, appellierte sie an Wagenknecht. « [ZEIT-online 2.10.2016]
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Von zwei ganz unterschiedlichen Arten "links" zu sein ...

schreibt der französische Soziologe Didier Eribon in seinem Buch Rückkehr nach Reims (edition suhrkamp), das im Jahr 2016 bisher schon 4 Auflagen erlebt am Beispiel seiner eigenen Famile.
  • I. Das Links-Sein der ArbeiterInnen 
  • II. das Links-Sein der bürgerlichen Intellektuellen.

Eribon, Jahrgan 1953, Arbeiterkind aus Reims, heute Professo für Philosophie an der Universität Amiens, schreibt über seine Kindheit (a.a.O.):

Nr. I.
"Kleine und mittelschwere Straftaten waren [bei uns] im Viertel die Regel, sie waren eine Art Volkssport, ein unbeugsamer Widerstand gegen die Gesetze eines Staates, den man im Alltag nur als das allgegenwärtige Machtmittel des Klassenfeindes erlebte.
Nicht selten hatten die Nachbarn meiner Großeltern vierzehn oder fünfzehn Kinder.[...]

Die Kommunistische Partei 
hielt sich allerdings ebenfalls gut. Die Parteimitgliedschaft war, jedenfalls bei den Männern, ziemlich verbreitet. Frauen nahmen an den Treffen der »Parteizellen« und bei anderen »aktivistischen« Anlässen nicht teil, trugen die Ansichten ihrer Ehemänner aber mit. Für die Ausbreitung und Verfestigung des politischen Zugehörigkeitsgefühls, das so eng und intuitiv mit einem sozialen verbunden ist, war das Parteibuch gar nicht notwendig. 
»Die Partei« brauchte keine weiteren Attribute, es war klar, von welcher man sprach. Mein Großvater, mein Vater und seine Brüder gingen gemeinsam zu den regelmäßig von der nationalen Parteiführung einberufenen Versammlungen [...] . Man wählte stets den kommunistischen Kandidaten und wetterte gegen die »faulen Kompromisse« und gebrochenen Versprechen der »falschen«, das heißt sozialistischen Linken — gab dieser aber doch seine Stimme, wenn das im zweiten Wahlgang nötig war. [...]   
»Die Linke« 
war ein starker und bedeutsamer Ausdruck. Man hatte eigene Interessen zu verteidigen und wollte die eigene Stimme hörbar machen. Jenseits von Streiks und politischen Demonstrationen vertraute man zu diesem Zweck sich selbst und seine Wählerstimme den »Repräsentanten der Arbeiterklasse« an, den politischen Verantwortungsträgern, deren Entscheidungen und Diskurse man durch den Akt der repräsentativen Wahl in ihrer Gesamtheit mittrug und bestätigte. [...]

Und wenn sich am Wahlabend wieder einmal abzeichnete, dass die Rechte gewonnen hatte, folgte der Wutausbruch; man ereiferte sich über die »gelben« Arbeiter, die »gaullistisch« und somit gegen sich selbst gestimmt hätten. Wie oft ist dieser — de facto immer nur partielle — Einfluss der Kommunisten auf verschiedene populäre Milieus der fünfziger bis siebziger Jahre beklagt worden. Und wie selten hat man sich bemüht, diesen Einfluss einmal aus der Sicht derjenigen zu betrachten, die man umso schneller verurteilt, als sie sich nicht öffentlich äußern können. [...]

  • Die Zustimmung zu kommunistischen Werten gründete sich auf dringlichere, konkretere Sorgen und Nöte." [...]

__________________________________________________

Nr. II.


"Links zu sein, sagt - im Unterschied und Gegensatz dazu - der französische Philosopg Gilles Deleuze (1925-1995) in seinem Abécédaire[1],
  • das heiße, »eine Horizontwahrnehmung« zu haben (die Welt als ganze zu sehen, die Probleme der Dritten Welt wichtiger zu finden als die des eigenen Viertels).
  • Nicht links zu sein hingegen bedeute, die Wahrnehmung auf das eigene Land, auf die eigene Straße zu verengen.
  • Seine Definition ist der Art, in der meine Eltern links waren, diametral entgegengesetzt. 

Für Arbeiter und Leute aus armen Verhältnissen bestand das Linkssein vor allem darin, ganz pragmatisch das abzulehnen, worunter man im Alltag litt.
Es ging um Protest, nicht um ein von globalen Perspektiven inspiriertes politisches Projekt.
Man schaute auf sich selbst, nicht in die Ferne, und zwar in geschichtlicher wie in geografischer Hinsicht. Und auch wenn man oft wiederholte, dass »eine richtige Revolution« vonnöten sei, so war diese Formel doch eher auf die eigenen Lebensumstände mit ihren Härten und Ungerechtigkeiten gerichtet als auf einen Umsturz des politischen Systems. [...]

Mein Vater: »Die rote Fahne ist die Fahne der Arbeiter!« 
Später fühlte er sich beleidigt und angegriffen von der Art, wie Valery Giscard d'Estaing [Von 1974 bis 1981 war Giscard d’Estaing Staatspräsident von Frankreich] sein großbürgerliches Ethos, seine affektierten Gesten und grotesken Redeweisen in die französischen Wohnzimmer trug. Auch die Journalisten und Moderatoren politischer Sendungen beschimpfte er, und er freute sich diebisch, wenn jemand, den er als Sprachrohr seiner eigenen Gedanken und Gefühle ansah — dieser oder jener stalinistische Apparatschik mit Arbeiterakzent —, die Spielregeln der Medienmacht auf eine Weise durchbrach, die man heute, wo die Unterwerfung der Politiker und fast aller Intellektueller quasi total geworden ist, gar nicht mehr kennt, indem er auf das typische entpolitisierte Geplänkel einfach nicht mehr antwortete und stattdessen die tatsächlichen Probleme der Arbeiter ansprach, womit er all jene würdigte, die bei solchen Gelegenheiten niemals sprechen und deren Existenz aus dem Feld der legitimen Politik systematisch ausgeschlossen wird. [...]
Die Anrufung der Revolution, über deren Details man nie nachzudenken brauchte, war eine Art Mythos gegen den Mythos, eine Form der verbalen Notwehr gegen böswillige Kräfte (Rechte, Reiche Mächtige), die alles zu kontrollieren schienen und deren dunkle Macht man hinter jedem Unheil vermutete, das sich im Leben der »kleinen Leute«, der »Leute wie wir« ereignete.

Für meine Familie teilte sich die Welt in zwei Lager. 
Entweder man war »für die Arbeiter« oder man war gegen sie, entweder man »verteidigte« die Arbeiter oder man tat nichts für sie. [...] Auf der einen Seite das »Wir« und das »Mit uns«, auf der anderen das »Sie« und das »Gegen uns«.


Wer erfüllt heute die Funktion, die damals »die Partei« innehatte?
Von wem dürfen sich die Ausgebeuteten und Schutzlosen heute vertreten und verstanden fühlen? An wen wenden und auf wen stützen sie sich, um politisch und kulturell zu existieren, um Stolz und Selbstachtung zu empfinden, weil sie sich legitim, da von einer Machtinstanz legitimiert, fühlen? [...]"


[1] eigentlich ABC-Täfelchen, die vom 15. -19. Jahrhundert als Lernhilfen für Kinder dienten [Wikipedia]. In diesem Fall ist eine französische Fernsehserie gemeint, „L'Abécédaire de Gilles Deleuze“, die zwischen 1988–1989 produziert wurde und aus einem fast 8-stündigen Gespräch mit Gilles Deleuze besteht. Auf deutsch: 3 DVDs, ca. 22 Euro. - Gilles Deleuze, »Gauche / Die Linke«, in: Abécéclaire. Gilles Deleuze von A bis Z (DVD), Berlin: absolut Medien 2009 [1988 / 89].
__________________________________________________


Die kommunistische und zugleich "rechte" Familie

25 Prozent der Franzosen werden nächstes Jahr im ersten Wahlgang für Marine Le Pen stimmen. Meine Mutter, meine Brüder, viele ihrer Bekannten werden voraussichtlich für den FN stimmen. Wenn man sie fragt, warum, sagen sie, dass es schlimmer nicht werden kann und dass sie nichts zu verlieren haben.

"Mir ist durchaus bewusst," - schreibt Didier - "dass das Programm und der Erfolg des Front National von den Gefühlslagen der Arbeiterklasse in den sechziger und siebziger Jahren in vielerlei Hinsicht geprägt bzw. hervorgerufen wurden.
Hätte man aus dem, was damals tagtäglich in meiner Familie gesprochen wurde, ein politisches Programm stricken wollen, es wäre, obwohl man hier links wählte, dem der Rechtsextremen wohl ziemlich nahegekommen:
  • Forderungen, Einwanderer wieder abzuschieben; 
  • »nationales Vorrecht« auf Arbeitsplätze und Sozialleistungen; 
  • Verschärfung des Strafrechts und der Strafverfolgung; 
  • Beibehaltung und Ausweitung der Todesstrafe; #
  • die Möglichkeit, die Schule bereits mit vierzehn Jahren zu verlassen, usw. 
Ein tiefsitzender Rassismus, der eines der dominanten Merkmale der weißen Arbeitermilieus und Unterschichten ausmachte, hat die Eroberung einer ehemals kommunistischen Wählerschaft durch den Front National (oder von jungen Wählern, die gleich für den FN stimmten — offenbar fiel es Arbeiterkindern deutlich leichter, systematisch die Rechten zu wählen) vielleicht erst ermöglicht oder jedenfalls erheblich begünstigt.
  • »Sie übernehmen das Land«, 
  • »Sie verdrängen uns«, 
  • »Sie kriegen Sozialhilfe und Kindergeld, und für uns bleibt nichts«."

Als meine Eltern Mitte der sechziger Jahre ihre Sozialwohnung am Stadtrand erhielten, in der auch ich zwischen meinem dreizehnten und zwanzigsten Lebensjahr wohnen sollte, gab es dort nur Weiße.
Erst Ende der Siebziger, lange nach meinem Auszug,kamen maghrebinische Familien und waren in der Wohngegend schnell in der Mehrheit. Rassistische Reflexe, die in Alltagsgesprächen schon immer zu hören gewesen waren, erfuhren dadurch eine spektakuläre Verschärfung.


Doch weil es sich dabei um zwei Wahrnehmungsebenen handelte, die sich kaum überschnitten, hatte dies politisch zunächst keine großen Auswirkungen:
  • Man wählte eine Partei (»die Partei«), die sich gegen den Algerienkrieg ausgesprochen hatte, 
  • man schloss sich einer Gewerkschaft an (der CGT'), die offiziell den Rassismus anprangerte, 
  • man fühlte sich politisch als linker Arbeiter.

Außerhalb des engsten Familienkreises fühlte man sich verpflichtet, rassistische Äußerungen zurückzunehmen oder sich für sie zu entschuldigen.
Nicht selten begannen oder endeten Sätze mit der Formel
  •  »aber ich bin kein Rassist«, 
  • oder man hob demonstrativ hervor, dass es »bei denen« auch »normale Leute« gebe, um dann das Beispiel von diesem oder jenem »Kerl« aus der Fabrik zu bringen, der sich so und so verhalten habe."
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Rechts oder links?

"So widersprüchlich es klingen mag, bin ich mir doch sicher, dass die Zustimmung zum Front National zumindest teilweis als eine Art politische Notwehr der unteren Schichten interpretieren muss. Sie versuchten, ihre kollektive Identität zu verteidigen, oder jedenfall eine Würde, die seit je mit Füßen getreten worden ist und nun sogar von denen missachtet wurde, die sie zuvor repräsentiert und verteidigt hatten." (Eribon)
Ob in Frankreich, Deutschland oder USA (aber derzeit nicht in Griechenland, Spanien, Porugal):
Die Abgehängten und/oder die, die befürchten, abgehängt zu werden, wenden sich nach rechts (Front National, AfD, Trump).
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Hillary Clinton und Marie Antoinette. Für die USA schreibt die US-amerikanische Journalistin Anjana Shrivastava:

»[...] Doch all das ist unter dem Radar der hoch fliegenden New Yorkerin Hillary Clinton. Die ehemalige Präsidentengattin und heutige Kandidatin ist eher unter den Reichen und Schönen der Städte auf Sponsorenabenden anzutreffen, wo sie sich laut der ihr eigentlich wohlgesonnen New York Times sichtlich wohl und entspannt fühlt – als sei sie auf Familienhochzeiten unterwegs. 
Neulich sprach sie auf so einer Veranstaltung über die Hälfte der Trump-Wähler als ein „basket of deplorables“, ein „Haufen der Bedauernswerten und Armseligen“. So sieht sie die Menschen, die Trumps Lügen, seine Fremdenfeindlichkeit und seinen Frauenhass nicht gebührend abstrafen, nur weil sie wirtschaftlich und kulturell verzweifelt sind. Sollte Hillary Clinton in November wider Erwarten verlieren, wäre dieser Ausspruch über die „Deplorables“ ihr Marie-Antoinette-Satz: „Wenn sie kein Brot haben, dann sollten sie Kuchen essen.“ Ein Satz, der Alternativen voraussetzt, die manche Amerikaner nicht mehr sehen.

Dabei wäre es Clintons Aufgabe, diese [?] Alternativen dem Wahlvolk nahezubringen. « 

Frage:
Und warum gehen bildungsbürgerliche Intellektuelle ("Neue Rechte", "Identitäre")  nach rechts?


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