Donnerstag, Oktober 13, 2016

Vom Rechtspopulismus, Abgehängten, Arbeiterparteien und der Würde des Menschen

Warum in Frankreich ehemalige kommunistische StammwählerInnen heute den Front National und Marie Le Pen wählen, hat der französische Philosophie-Professor und Soziologe Diedier Eribon - auch am Beispiel seiner eigenen Familie - in seinem jungsten Buch sehr anschaulich beschrieben.

Das erklärt zugleich auch, warum bei den letzten Landtags-Wahlen 2016 in Deutschland so viele ArbeiterInnen und Arbeitslose zur AfD gewandert sind, so dass manche meinen: Die AfD ist oder wird die neue deutsche Arbeiter-Partei.
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Kurz gefasst:

"Wer erfüllt heute die Funktion, die damals »die Partei« [die Kommunistische Partei Frankreichs] innehatte?
Von wem dürfen sich die Ausgebeuteten und Schutzlosen heute vertreten und verstanden fühlen? An wen wenden und auf wen stützen sie sich, um politisch und kulturell zu existieren, um Stolz und Selbstachtung zu empfinden, weil sie sich legitim, da von einer Machtinstanz legitimiert, fühlen? [...]


25 Prozent der Franzosen werden nächstes Jahr im ersten Wahlgang für Marine Le Pen stimmen. Meine Mutter, meine Brüder, viele ihrer Bekannten werden voraussichtlich für den FN stimmen. Wenn man sie fragt, warum, sagen sie, dass es schlimmer nicht werden kann und dass sie nichts zu verlieren haben. 
So widersprüchlich es klingen mag, bin ich mir doch sicher, dass die Zustimmung zum Front National zumindest teilweis als eine Art politische Notwehr der unteren Schichten interpretieren muss. Sie versuchten, ihre kollektive Identität zu verteidigen, oder jedenfall eine Würde, die seit je mit Füßen getreten worden ist und nun sogar von denen missachtet wurde, die sie zuvor repräsentiert und verteidigt hatten." (Didier Eribon)
Ja, es geht sowohl um erlebte und/oder befürchtet Armut (z.B. im Rentenalter), aber auch um die menschliche Würde.

Schon 1997 schrieb der (inzwischen aus der katholischen Kirche ausgetretene) katholische Theologe und Psychotherapeut Eugen Drewermann:
"Gewiss, schon das natürliche Mitleid drängt dazu, das Elend der Armut zu bekämpfen. 
Doch wird man bald geststellen müssen, dass es durchaus nicht genügt, die äußeren Lebensumstände zu bessern, es gilt den Menschen von innen her ihre Würde zurück zu schenken."
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 Wer vertritt also "die Abgehängten"? 

Von den Grünen in Deutschland hat Solches wahrscheinlich nie jemand erwartet. Sie sind die Partei der liberalen, ökologischen, gut-bürgerlichen Mittelschicht. -
Ja, "Gewiss, schon das natürliche Mitleid drängt dazu, das Elend der Armut zu bekämpfen", aber die Grünen waren nie "DIE Partei" der Arbeiterklasse, der Abgehängten, sie wollten es nie sein und werden es nie sein.
Böse Zungen sagen daher gerne: »Grüne können das Wort "sozial" nicht buchstabieren.«


Und "die Linken" in Deutschland,
also z.B. früher die KPD: 1918 gegründet, 1956 verboten. Warum, das weiß man seit dieser Woche noch etwas genauer: Ende der 1950er-Jahr hatten drei Viertel der Führungskräfte im westdeutschen Justizministerium eine NS-Belastung. Bis 1973 hatte es im Bonner Justizministerium etwa 170 Abteilungs-, Unterabteilungs- und Referatsleiter gegeben; 53 Prozent davon waren ehemalige NSDAP-Mitglieder. - Zu diesem Ergebnis kam jüngst die Kommission, deren Abschlussbericht, "Die Akte Rosenburg" am10. Oktober 2016 in Berlin vorgestellt wurde. „Diese personelle Kontinuität hat den demokratischen Neubeginn belastet und verzögert“, so Justizminister Heiko Maas (SPD).


Dann die SPD:
auf Deutsch erschienen 1980.
(Das war damals sehr hipp.)
Sie hat sich schon lange - ebenso wie die KPF un die Sozialisten in Frankreich - von der Arbeiter- und Arbeitslosenklasse verabschiedet.  (Didier beschreibt auch diesen Prozess - für Frankreich -  sehr nachvollziehbar.)

In Deutschland stehen für den Abschied die Namen Schröder/Fischer mit der Agenda 2010 (am 14.3.2003 von Kanzler Schröder verkündet), in Frankreich die Präsidentschaft des Sozialisten Francois Mitterand (ab 10. Mai 1981), in England der Wechsel und Tony Blair von Labour zu New Labour  (Schröder-Blair-Papier von 1999). 
Die Partei Die Linke, immer noch teilweise belastet durch die SED-Vergangenheit und hat sich noch nicht wirklich gefunden und etabliert.

In England
"Der Weg ins Nichts. -
Warum keiner mehr
von Tony Blairs Drittem Weg redet -
vor allem Tony Blair nicht."
war Anthony Giddens der Hof-Prophet Tony Blairs für dessen New-Labour-Politik. Sein Buch "Der Dritte Weg" erschien 1998 in England und ein Jahr später in Deutschland. Die Idee: Keine "klassische Sozialdemokratie" mehr! Aber auch keinen Neoliberalismus! Sondern ein bisschen von beiden sozusagen. Keine Ideologie mehr, weder linke noch rechte, "Wichtig ist, was funktioniert", so Tony Blair, (um reich zu werden und viel Geld zu verdienen).

Tony Blair hat sich vom Proletariat verabschiedet (Gorz), sich auf den Dritten Weg gemacht (Hidddens), und:
Er hat es geschafft. Er gilt heute als "geldgierige Type" und hat ein privates Vermögen angehäuft, irgenwas zwischen 20- und 100-Millionen Pfund, sagt man. - (Ein britisches Pfund ist aktuell etwas 10% mehr wert als ein Euro:)

Schon 3 Jahre nach dem Erscheinen von Giddens Buch, am 7. Juni 2001 schrieb DIE ZEIT:
Der Weg ins Nichts. - Warum keiner mehr von Tony Blairs Drittem Weg redet - vor allem Tony Blair nicht. [...]
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Der Journalist Pickert beschreibt die Lage heute so:
"Nie zuvor aber seit dem Ende des Nationalsozialismus scheinen so viele so vehement das demokratische Institutionensystem abzulehnen wie jetzt – ob nun in den USA oder in Europa.

Die Grundlagen für diese Ablehnung wurden in den 90er Jahren gelegt, als sich die Ideologie des Staatsrückzugs zugunsten der „Marktkräfte“ selbst in den recht fortschrittlichen Sozialstaaten Westeuropas festsetzte.
In den USA regierte der Demokrat Bill Clinton – und die von ihm verantwortete Deregulierung der Finanzmärkte ermöglichte überhaupt erst viele der späteren Verwerfungen. In Deutschland verabschiedete eine rot-grüne Regierung die Agenda 2010. Fakt war, dass die Politik, die repräsentative Demokratie, damals freiwillig die Funktion abgab, jenen Ausgleich sicherzustellen, der die Gesellschaften vor dem Auseinanderfallen bewahrt."
Und er empfiehlt ein Buch. Über weiße Proletarier in den USA. Das sind die, die jetzt Trump als Präsidenten der USA sehen möchten.

Pickert (a.a.O.):
"Der US-amerikanische Autor J. D. Vance hat mit seinem autobiografischen Buch „Hillbilly Elegy“ vor einigen Monaten eine anschauliche Beschreibung vorgelegt, wie wenig die gelebte Realität relevanter Gesellschaftsteile noch Eingang in den Diskurs der politischen Elite findet.
Schlimmer noch: Verarmte, bildungsferne Weiße sind inzwischen so ziemlich die Einzigen, die man diskriminieren darf, ohne medial geschlachtet zu werden. Keine Comedysendung kommt ohne herablassendes Sich-lustig-Machen über ungebildete Weiße aus, ob sie nun zu Trump-Veranstaltungen in den USA pilgern oder zur Pegida-Demo nach Dresden. 

Wundert sich jemand, dass sie gut finden, wenn einer sie mal ernst nimmt?"

Ja, es geht auch um die Würde des Menschen. Siehe oben.

Zum gleichen Thema - weiße Arbeiterklasse - erschienen 2016 zwei weitere Bücher:


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Christine Nöstlinger,
heute (13. Oktober 2016) vor 80 Jahren in Wien geboren, mag heute lieber Kinder trösten als ihnen den pädagogischen Zeigefinger hochhalten.

Trotzdem hat sie sich in diesen Tagen zur politischen Lage und zur Flüchtlingsfrage geäußert:


Wenn ich mir zum Beispiel die Situation mit den Flüchtlingen ansehe: Da verbreiten irgendwelche Deppen im Internet einen völligen Blödsinn, und zwei Tage später hört man ihn schon im Kaffeehaus. Wie gern die Leute schiache Sachen weitererzählen! Da kann man doch nur traurig sein. Warum sollte sich eine Österreicherin bedroht fühlen, wenn irgendwo in drei Kilometern Entfernung 80 Flüchtlinge untergebracht werden sollen?

Glauben Sie, dass es dabei um Flüchtlinge geht – oder liegt da eigentlich etwas anderes drunter?

Wenn man es nicht so bös beurteilt, ist das die Enttäuschung bei den Leuten. Es ging 20, 25 Jahre lang immer bergauf. Sie haben immer mehr bekommen, sie konnten sich immer mehr leisten, und seit zehn Jahren geht das nicht mehr. Jetzt merkt man den Frust und die Wut darüber. Die Decke der Zivilisation ist sehr dünn, und sie kriegt gerade überall Löcher. [Das ganze Interview]



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