Mittwoch, Juli 05, 2017

Die globale Lösung der Flüchtlingskrise und die Neu-Verteilung der Welt. Kalkül und Gerechtigkeit.

Der katholische Theologe (vor 25 Jahren wurde ihm die Lehr- und Predigtbefugnis entzog, 2005 trat er aus der Kirche aus) Eugen Drewermann wurde vom Deutschlandfunk gefragt,ob er es für richtig halte, dass die christlichen Kirchen sich in der Flüchtlingsfrage so eindeutig positionieren.
Zum Beispiel:
Seine erste Reise überhaupt als Papst führte Franziskus auf die Insel Lampedusa vor Sizilien. Dort warf er am 8. Juli 2013, keine vier Monate nach seiner Wahl, von einem Boot aus einen Kranz ins Mittelmeer, um an die Tausenden von Bootsflüchtlinge zu erinnern, die auf der Überfahrt nach Europa ums Leben gekommen sind.
  
Er sagte dort:
»Immigranten auf dem Meer umgekommen, auf den Booten, die statt eines Weges der Hoffnung ein Weg des Todes wurden. So die Überschriften der Zeitungen. Als ich vor einigen Wochen diese Nachricht hörte, die sich leider sehr oft wiederholte, drangen die Gedanken immer wieder wie ein Leid bringender Stich ins Herz. Und da habe ich gespürt, dass ich heute hierher kommen musste, um zu beten, um eine Geste der Nähe zu setzen, aber auch um unsere Gewissen wachzurütteln, damit sich das Vorgefallene nicht wiederhole. Es wiederhole sich bitte nicht. ...
Heute Morgen möchte ich im Licht des Wortes Gottes, das wir gehört haben, einige Worte vorlegen, die vor allem das Gewissen aller anstoßen und dazu bringen sollen, nachzudenken und gewisse Haltungen konkret zu ändern.
„Adam, wo bist du?“, lautet die erste Frage, die Gott an den Menschen nach dem Sündenfall richtet. „Wo bist du, Adam?“ Adam ist ein Mensch ohne Orientierung, der seinen Platz in der Schöpfung verloren hat, weil er glaubt, mächtig zu werden, alles beherrschen zu können, Gott zu sein. Und die Harmonie geht zu Bruch, der Mensch geht fehl, und dies wiederholt sich auch in der Beziehung zum anderen, der nicht mehr der zu 
liebende Bruder ist, sondern bloß der andere, der mein Leben, mein Wohlbefinden stört.


Und Gott stellt die zweite Frage: „Kain, wo ist dein Bruder?“ Der Traum, mächtig zusein, groß wie Gott, ja Gott zu sein, führt zu einer Kette von Fehlern, zur Kette des Todes, führt dazu, das Blut des Bruder zu vergießen!
Diese beiden Fragen Gottes ertönen auch heute in all ihrer Kraft! Viele von uns, ich schließe auch mich ein, sind wir ohne Orientierung, wir achten nicht mehr auf die Welt, in der wir leben, wir wahren und hüten nicht, was Gott für alle geschaffen hat, und wir sind nicht einmal mehr in der Lage, einander zu hüten. Und wenn diese Orientierungslosigkeit Weltdimensionen annimmt, kommt es zu Tragödien wie jener, die
wir erfahren haben.„Wo ist dein Bruder?“ Sein Blut schreit bis zu mir, sagt Gott. ...
Diese Brüder und Schwestern von uns suchten, schwierigen Situationen zu entkommen, um ein wenig Sicherheit und Frieden zu finden; sie suchten einen besseren Ort für sich und ihre Familien, doch sie fanden den Tod. Die dies suchen, wie oft finden sie kein Verständnis, finden sie keine Aufnahme und Solidarität! Und ihre Stimmen dringen bis
zu Gott! ...
Bevor sie hierher kamen, passierten sie die Hände der Menschenhändler, welche die Armut der anderen ausnutzen, diese Leute, für die die Armut der anderen eine Einnahmequelle ist. Wie viel haben sie gelitten! Und einige haben es nicht geschafft, hierher zu kommen. „Wo ist dein Bruder?“ Wer ist der Verantwortliche für dieses Blut? In der spanischen Literatur gibt es eine Komödie von Lope de Vega. Darin wird erzählt, wie die Einwohner der Stadt Fuente Ovejuna den Gouverneur umbringen, weil er ein Tyrann ist. Dies geschieht auf eine Weise, dass unbekannt bleibt, wer ihn getötet hat. Und als der Richter des Königs fragt: „Wer hat den Gouverneur umgebracht?“, antworten alle: „Fuente Ovejuna, Herr“. Alle und niemand! Auch heute taucht diese Frage nachdrücklich auf:
Wer ist der Verantwortliche für das Blut dieser Brüder und Schwestern? Niemand! Wir alle antworten so: Ich bin es nicht, ich habe nichts damit zu tun, es werden andere sein, sicher nicht ich. Aber Gott fragt einen jeden von uns: „Wo ist dein Bruder, dessen Blut zu mir schreit?“
Die Globalisierung der Gleichgültigkeit macht uns alle zu „Ungenannten“, zu Verantwortlichen ohne Namen und ohne Gesicht.
„Adam, wo bist du?“, „Wo ist dein Bruder?“ sind die zwei Fragen, die Gott am Anfang der Geschichte der Menschheit stellt und die er ebenso an alle Menschen unserer Zeit, auch an uns richtet. ...
Vergebung, Herr!
Herr, gib, dass wir auch heute deine Fragen hören: „Adam, wo bist du?“ „Wo ist das Blut deines Bruders?“ «
(Quelle und ganzer Text)

Eugen Drewermann antwortete dem Deutschlandfunk:
»Ich hätte viel darum gegeben, sie [die Kirchen] hätten es viel früher getan. Schon in den 90er-Jahren nach dem Schengen-Abkommen war deutlich, was für eine Art von Außenpolitik wir den Flüchtlingen gegenüber einschlagen würden. Auf all das greifen wir jetzt zurück und tun so, als wenn wir asyl- und menschenfreundlich wären. Im Gegenteil, wir treiben im Strom eines Europas, das sich abschottet an der Südgrenze, um seinen Wohlstand zu halten, unter Bedingungen, die die Verwüstung der Dritten Welt überhaupt zur Voraussetzung haben, soweit ab, dass die Kirchen protestieren müssen ______________________________________________

Wer ist der Verantwortliche? - Niemand!

Doch, die Ursachen sind klar und werden wohl auch von kaum jemand bestritten.
Kurz und einfach gesagt:

Nach dem Ende des Kalten Kriege, dem Ende der Sowjetunion und des Ostblocks, war die Geschichte nicht zuende, es wurde nur ein neues Kapitel aufgeschlagen.

 Das Römische Imperium ging unter, das Osmanische Reich ging unter, das Britische Imperium ging unter, die Sowjetunion ging unter, das US-Imperium ... möchte noch nicht untergehen und verteidigt sich heftig. 
  • "Make America great again"(Trump). 
  • Putin möchte Russland wieder groß machen wie zur Zeit der Sowjetunion.  
  • Erdogan möchte die Türkei wieder groß machen wie zur Zeit des Osmanischen Reiches. 
  • Frankreich möchte unter Macron wieder stärker werden, eine Grande Nation.  
  • Deutschland möchte sich inerhalb der Europäischen nicht die Wurst vom Brot nehmen lassen, stärkste wirtschaftliche Macht Europas bleiben und Südeuropa nichts abgeben von seinem Euro-Kuchen. 
  • China ist schon wieder sehr groß geworden, und wohl der aktuelle Hauptkonkurrent der USA. 
  • ...
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"Der 3. Weltkrieg hat längst begonnen"

So wie schon öfter in der Geschichte - nach dem Ende des 1. Weltkrieges 1918, nach dem Ende des 2. Weltkrieges, nach dem Ende der Sojwjetunion wir der Globus unter den Großmächten und Gerne-Großmächten nur neu aufgeteilt.
Manche sagen:
Siehe auch:  
  • Jean Ziegler
  • Paul Craig Roberts  (US-amerikanischer Ökonom und Publizist. Er war stellvertretender Finanzminister während der Regierung Reagan.Seine Kritik an der neoliberalen Wirtschaftspolitik, die seiner Auffassung nach zur Finanzkrise 2008 führte, legte er vor allem in seinem Werk The Failure of Laissez-Faire Capitalism and the Economic Erosion of the West (2012) dar.)  [Wikipedia]
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Neu-Aufteilungen der Welt; zum Beispiel:

Der Vertrag von Tordesillaswurde 1494 zwischen den damals vorherrschenden Seemächten Portugal und Spanien in Tordesillas geschlossen. Er sollte eine bewaffnete Konfrontation zwischen diesen beiden Mächten verhindern, indem er die Welt in eine portugiesische und eine spanische Hälfte aufteilte. Bereits 1493 hatte Papst Alexander VI. in einer päpstlichen Bulle eine Grenzlinie zur Einteilung der beiden Hoheitsgebiete gezogen, die vom Nordpol zum Südpol durch den Atlantischen Ozean verlief. Im Vertrag von Tordesillas wurde diese Grenzlinie weiter nach Westen verschoben. [Wikipedia]
Das Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916 war eine geheime Übereinkunft zwischen den Regierungen Großbritanniens und Frankreichs, durch die deren koloniale Interessengebiete im Nahen Osten nach der Zerschlagung des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg festgelegt wurden.
[Wikipedia]
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Was kann man tun?
Man konnte nach 1989 aus geostrategischen Interessen und zur Sicherung von Öl, Gas und anderen Rohstoffen:

  • Unter einem Vorwand (Bin Laden) Afghanistan angreifen und einen failed state und Flüchtlinge produzieren.
  • Unter einem Vorwand (Saddam Hussein) den Irak zerstören und so den Islamischen Staat gebären und Flüchtlinge produzieren.
  • Unter einem Vorwand (Al Gaddafi) Libyen zertören und so einen failed state und Flüchtlinge produzieren.
  • Einen Aufstand in Syrien (gegen Assad) für Verteilungskämpfe ausnutzen ... und Flüchtlinge produzieren... .
  • den Hilfs-Organisationen der Vereinten Nationen (UNHCR) das Geld kürzen, so dass sie die Flüchtlinge vor Ort in der Türkei, im Libanon und anderswo nicht mehr ernähren können und diese sich Richtung Griechenland, Spanien, Italien, West- und Noreuropa auf den Weg machen müssen.
  • "Diese Wirtschaft tötet" (Papst Franziskus). 
  • ... 
Man kann gegen Flüchtlinge
  • Abkommen schließen, die Flüchtlinge von Deutschland fernhalten sollen (die Dublin-Abkommen, siehe oben),
  • Zäune bauen (wie z.B. in Mexiko, in Afrika in Melilla und Ceuta, in Ungarn, Bulgarien),
  • Flüchtlingsschiffe abdrängen und im Meer versenken,
  • einer von zwei oder drei Regierungen Libyens einen Bakschisch geben, damit sie ihre Waffen gegen die Boote der Hilfsorganisationen richten, die Flüchtlinge im Mittelmeer aufnehmen wollen,
  • am Brenner-Pass österreichisches Militär aufziehen lassen,
  • ...
"Der Marsch". BBC-Film von 1990.
  • "Der Film wurde 1990 im Hauptprogramm der ARD nach der Tagesschau ausgestrahlt. Bei einer anschließenden live übertragenen Diskussionsrunde wurden die Geschehnisse als unrealistische und viel zu negative Zukunftsvision kritisiert. - Im September 2015 erneut im ARD Hauptprogramm und auf Phoenix ausgestrahlt."
Deutschland war immer - gemäßigt - dabei: Bei den Militäreinsätzen (mit Soldaten und/oder Aufklärungsflugzeugen), bei den Verträgen (Dublin), beim Geld-Streichen für den UNHCR... 



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Könnten wir auch anders? 
Eugen Drewermann fährt im o.g. Interview fort:
»Das Wort gnadenlos ist ein Werbetitel, schon in der Filmindustrie. Sans merci, gnadenlos, Django. Das ist sofort publikumswirksam, aufregend, krass, gewalttätig. Wir leben in einer Welt, die Gnade nicht kennen kann, aber Leistung braucht. 

Die Sicherung des Industriestandortes Deutschland will den internationalen, globalen Leistungswettbewerb. Die ins Zittern kommt, wenn die Pisa Studien belegen, dass die Schüler in den MINT Fächern noch nicht an vorderster Stelle stehen.  


Vernichtend der eine im Kampf gegen den anderen. 
Weil wir von Gnade nicht mehr wissen, weil wir von Gott eigentlich gar nicht mehr hören, sind wir hinein gestürzt in eine Welt, die zum Gottesersatz nur noch das Geld, die Macht und das Militär übrig lässt. «

Dabei kann jede/r von uns in Deutschland Geborene von Glück sagen, dass er hier in West-Europa auf die Welt gekommen ist. Das ist ein Geschenk. Jede/r von uns hätte auch in Afghanistan, in Syrien, in Libyen, im Irak, in Mali ... auf die Welt kommen können. Und er/sie säße in eben diesem Augenblick vielleicht in einem Schrott-Boot in einem libyschen Hafen, für das er einem Schlepper 5000 Euro bezahlt hat.

Drewermann:
»Die Kranken, die Armen, die am Boden Liegenden, die Ausgegrenzten, die Verlorenen, die Bettler am Wegesrand wissen, dass es genauso ist und sein muss. 
Sie können überhaupt nur leben von einem Herzen, das sich öffnet und Händen, die sich auftun. Sie sind gar nicht im Stande, die Voraussetzungen zu erfüllen, unter der unsere Leistungsgesellschaft bereit wäre, sie zu akzeptieren. 

Aber dann begehen wir einen großen Irrtum. Wir tun so, wie wenn das, was wir hätten im Geldbeutel, in der Achtung der Anderen, in den Rangpositionen der Gesellschaft, wir uns selbst verdient, erkämpft, erstritten hätten. Tatsächlich haben wir eine Menge dazu beigetragen, ich will das nicht leugnen, von Kindertagen an. Womöglich waren wir fleißig, arbeitsam, aufmerksam, und so weiter.

Tatsächlich täuschen wir uns über das Wesentliche, dass wir nicht da sitzen am Wegesrand, nicht uns befinden da ganz unten, sondern oben auf dem Kutschbock sitzen, ist ein reines Glück. Selbst die Voraussetzungen aller Leistungen bestehen in dem Geschenk, dass wir einigermaßen gesund sind, und dazu haben wir nur minimal beigetragen. Und das ist der Grundgedanke Jesu, und den greift Luther wieder auf in seiner so genannten Gnaden- oder Rechtfertigungslehre.
 

Alles, was wir sind, ist ein Geschenk, das wir nicht verdient haben. Das aber uns verpflichtet, an die Unglücklichen, an die weniger Ausgezeichneten weiterzugeben. Die Position von oben und unten fällt völlig dahin. Alle brauchen wir die gleiche Güte, dasselbe Erbarmen. Sind vereint in derselben Not und bedürfen einer Zuwendung, die uns enthebt von jeder Voraussetzung. Das ist der Hintergrund.«
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 Und DIE DA OBEN, DIE ELITEN, DIE Politiker...?

Es gibt eine Binsenweiheit, dass es Solche und Solche gibt. Der "liebe Gott" - oder wer auch immer - hat die A....-Löcher dieser Welt vermutlich ziemlich gleichmäßig über den Globus verstreut.

Es gibt nicht DIE PolitikerInnen. 

USA: Bernie Sanders, US-demokratischer Präsidentschafts-Kandiat. Er ist der beliebteste Politiker der USA und erhielt bei den Vorwahlen der letzten Präsidentschaftswahlen mehr Stimmen als Trump und Clinton zusammen. Aber: Er wurde nicht Präsident (und wird es wohl nie werden).- (Auch) Eliten immerhalb der Demokratischen Partei der USA haben das verhindert.
Am 25. Juni 2017 twitterte er seine "crazy idea", dass alle Menschen auf der ganzen Welt eine  umlagenfinanzierte Krankenversicherung bekommen sollten.


England: Pfründe innerhalb der Labour-Party-Führung:  Einer wie Jeremy Corbyn ist ihnen unheimlich. "Er sitzt seit 33 Jahren im Unterhaus und hat sich nie von der Wirtschaft einfangen lassen." -  Niemand hätte zu prophezeien gewagt, dass die Labour-Partei bei den Wahlen im Juni 2017 mit Corbyn landesweit rund 40 Prozent der Stimmen einheimsen würde. Corbyn erzielte das beste Ergebnis für Labour seit 2005, als Tony Blair mit absoluter Mehrheit die Wahl gewann. Zuvor, bei der Ur-Wahl unter den ca. 600.000 Mitgliedern und UnterstützerInnen der Labour-Party zum Vorsitzenden der Partei, hatte sich Corbyn in der ersten Runde mit 59,5 Prozent klar durchgesetzt: Corbyn, der als »Mann der Prinzipien gilt: Kriegsgegner, Atomwaffengegner, Befürworter von Verstaatlichungen, Kämpfer für die Armen. Ein Mann, der sich lange weigerte, einen Anzug zu tragen, der nicht einmal ein Auto besitzt. „Ein echter Mensch“, schwärmt ein Labour-Wähler.«- Auch er wird wohl nie Premier in England werden.
(Quelle u.a. )  

Gerechtigkeit und Kalkül widersprechen sich
Drewermann:
»Und das ist nicht eine Frage des äußeren Erfolgs. 
Der wahre Widerspruch, der dann auch was ändert, der Reformation ermöglicht hat, ist nicht das Kalkül "wie setze ich mich durch?, wie bringe ich die Fürsten auf meine Seite? Wie viele Dollar muss ich aufbringen, um einen Wahlkampf zu gewinnen?"
Die Frage ist, was stimmt zwischen mir selbst und Gott und wie hilft es den Menschen an meiner Seite? Was dann daraus wird ist wie wenn Sie einen Stein ins Wasser werfen: Er zieht seine Kreise und Sie können nicht vorhersehen, wie die sich an den Uferrändern brechen. Aber dass Sie den Stein ins Wasser bekommen, das ist die Aufgabe, wofür wir leben.«

In nicht-religiöser Sprache und auf Deutschland und die deutsche Sozialdemokratie bezogen formuliert Houssam Hamade das so:

»Für Martin Schulz ist Gerechtigkeit nur Kalkül – an der Verachtung Arbeitsloser und Armer will er nichts ändern.
Schulz spricht viel von Gerechtigkeit, auch beim Parteitag am Sonntag [25. Juni 2017]. [...] Wenn sich aber dann zeigt, dass diese Geste nur ein Instrument war, [...], ist die Enttäuschung groß.
Bei Schulz wird das dann deutlich, wenn von ihm die üblichen Politikersprüche zu hören sind, denen niemand widersprechen kann, weil sie nur das Offensichtliche sagen, wie: Wer hart arbeitet, soll davon auch im Alter ordentlich leben können.

Die Austauschbarkeit solcher Aussagen ist der Kern des weit verbreiteten tiefen Misstrauens gegenüber der Politik. 

  • Politikergeschwätz dieser Art gehört sich vor allem nicht, wenn es um Gerechtigkeit geht, denn diese ist für die meisten Menschen ein Herzensthema: Im Alltagsleben, in Beziehungen, Freundschaften, bei der Arbeit, überall spielt sie eine entscheidende Rolle. 
Reihen von Sozialexperimenten haben gezeigt, dass Menschen sich Gerechtigkeit sehr viel kosten lassen. Eine Allensbach-Umfrage von 2010 belegt, dass 79 Prozent der Deutschen soziale Gerechtigkeit besonders wichtig ist. Gerechtigkeit und Kalkül widersprechen sich aber. 

Wer nur nach Wählerstimmen schielt, der erntet Misstrauen. 
Das gilt gerade für die SPD, deren Zustimmungswerte eingebrochen sind, als Schröder die Agenda 2010 durchgesetzt hat. Mit dieser wird und wurde Arbeitslosen wieder und wieder vermittelt, sie seien faul und egoistisch. Die SPD nährte und nutzte zu dieser Zeit massiv Ressentiments gegen Arbeitslose. Schröder erklärte damals, es gäbe „kein Recht auf Faulheit“. Solche Vorwürfe wurden damals auch von Kampagnen der Bild-Zeitung mitgetragen – diese hetzte mit Titeln wie „Deutschlands frechster Arbeitsloser“ und „Sozialamt zahlt sogar die Putzfrau“. Das himmelschreiend Ungerechte ist, dass damit den Ärmsten unserer Gesellschaft die Schuld für ihre Armut unterstellt wird." [...] « 
[Quelle]
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Kennedy, geboren vor 100 Jahren am 29. Mai 1917, hat das Buch nicht selber geschrieben, sondern sein Reden-Schreiber Ted Sorensen war der Autor, (vom dem auch andere legendäre Sätze Kennedy`s stammen sollen wie "Ich bin ein Berliner"). 
Profiles in Courage is a 1957 Pulitzer Prize-winning volume of short biographies describing acts of bravery and integrity by eight United States Senators. The book profiles senators who defied the opinions of their party and constituents to do what they felt was right and suffered severe criticism and losses in popularity because of their actions. It begins with a quote from Edmund Burke on the courage of the English statesman Charles James Fox, in his 1783 attack upon the tyranny of the East India Company in the House of Commons. [wikipedia] Kennedy beschreibt darin am Beispiel von acht verschiedenen Senatoren aus der US-amerikanischen Geschichte, dass Zivilcourage die wichtigste Eigenschaft eines Politikers sei. Die biografischen Texte behandeln Politiker, die gegen ihre früheren Überzeugungen, gegen die Linie ihrer Partei oder gegen die öffentliche Meinung gehandelt habe. Ihre Überzeugung hatte Vorrang vor ihrer Karriere.
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Quelle

Dienstag, Mai 30, 2017

Die AfD, der Evangelische Kirchentag in Berlin, Bischof Dröge und die Dialoge


»Eigentlich hat Anette Schultner noch gar nichts gesagt. Zumindest nichts Kontroverses.

"Jeder einzelne Mensch ist gottgewollt", sagt sie, die Sprecherin der Christen in der AfD. Welcher Kirchentagsbesucher würde ihr da schon widersprechen?

Doch es dauert keine fünf Minuten, da kommt der erste Protest. "We shall overvome", singen einige Zuschauer in der Sophienkirche, dem Schauplatz dieser Diskussionsrunde in Berlin-Mitte. "We shall overcome some day…"

Unruhe bei den etwa 500 Besuchern. Vereinzelt Pfiffe.[...] Über Angela Merkels Flüchtlingspolitik habe sie sich geärgert. "Frau Merkel hat die Grenzen geöffnet. Unkontrollierte Zuwanderung ist ein Problem."

Markus Dröge, dem Berliner Landesbischof auf dem Podium, entgleiten kurz die Gesichtszüge. Aber er hat sich vorgenommen, sich nicht provozieren zu lassen. Wer so etwas sage, sei nicht glaubwürdig.

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"Es ist nicht glaubwürdig, sich in der AfD zu engagieren, denn es steht kein christliches Menschenbild im AfD-Programm", sagt er. [...]

Zwei Stunden dauert die Diskussion. Hart und fair sei sie gewesen, sagt Bischof Dröge hinterher. "Es ist herausgekommen, dass wir sehr unterschiedliche Auffassungen haben."[...]

Mit Konfrontation endet die Veranstaltung dann auch. Ganz am Ende, die Moderatorin versucht gerade, etwas Versöhnliches zu sagen, stürmt ein 16-jähriger ehrenamtlicher Flüchtlingshelfer nach vorne. Er hängt ein "Kein Mensch ist illegal"-Shirt über die Kanzel und fängt an, zu predigen. "Tue Deinen Mund auf für die Stummen", ruft er - ein Zitat einer Predigt aus dem November 1938.« [Quelle]

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Und danach I:

»EKD-Ratschef Bedford-Strohm verteidigt Dialog mit AfD-Vertretern auf dem Kirchentag. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, verteidigt Diskussionen beim Evangelischen Kirchentag mit AfD-Vertretern ebenso wie einen Dialog mit Atheisten. „Es ist richtig, dass man Dialoge führt“, sagte der Theologe. [...]
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„Ebenso wie der Kirchentag hat die EKD klar gemacht, dass sich Gesprächsbereitschaft nicht an irgendeiner Parteizugehörigkeit ausmacht, sondern an den Inhalten, die jeder einzelne vertritt“, unterstrich Bedford-Strohm.
Eine rote Linie sei aber überschritten, „wo menschenfeindliche Einstellungen wie Rassismus oder Antisemitismus vertreten werden“ oder der Natio­nalsozialismus vertreten oder verherrlicht werde. Er betonte: „Wir wollen nicht Menschen, die sich von populistischen Aussagen angezogen fühlen, weiter in diese Richtung drängen, indem wir das Gespräch verweigern.“

Die Entscheidung des Kirchentags, anders als der Katholikentag im vergangenen Jahr AfD-Vertreter nicht grundsätzlich auszuschließen, hatte für Diskussionen gesorgt. „Wir wollen nicht, dass in offener Weise Positionen vertreten werden, von denen wir glauben, dass sie gegen die Menschenwürde verstoßen.“ Es sei aber „Tradition des Kirchentags, andere Positionen auszuhalten“. Das müsse auch für AfD-Vertreter gelten.« [Quelle]


Anmerkung:
  1. Eine rote Linie sei aber überschritten, „wo menschenfeindliche Einstellungen wie Rassismus oder Antisemitismus vertreten werden“, sagt der Ratsvorsitzende. Bei dieser Aussage wünscht man sich von einem christlichen Bischof und Theologen nicht eine politisch-korrekte, sondern eine biblische Begründung. Diese wäre sicher leicht zu führen. Ohne diese Begründung bleibt das Argument richtig, aber in diesem Kontext schwach.
  2. "oder der Natio­nalsozialismus vertreten oder verherrlicht werde...". Auch das ist eine nach dem Grundgesetz korrekte Argumentation eines Bürgers, aber keine christliche oder theologische. Nur diese könnte in diesem Zusammenhang ChristInnen überzeugen.
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Und danach II:
Bildquelle: rbb-Abendschau
Bischof Dröge hatte eine Gesprächspartnerin, die nun wirklich keine Ahnung vom christlichen Glauben hatte.

Man kann sagen: Insofern hatte der Bischof  eine leichte Sparringspartnerin.
Die AfD hat kein Schwergewicht in den "Dialog" geschickt, sondern ein Fliegengewicht. Wenn Herr Gauland gekommen wäre, der  früher in der CDU war, wäre es vielleicht noch spannender gewesen.

Frau Schultner: "Es wäre auch in der Bibel völlig undenkbar gewesen, dass ein Fremder in ein anderes Land geht und dort die gleichen Rechte reklamiert wie die, die dort schon leben." Na, da würde man doch Frau Schultner mal die Bibel-Lektüre empfehlen, zum Beispiel das Buch Ruth im Alten Testament, oder die Geschichte von Joseph (aus Israel, der dann rechte Hand des Pharao in Ägypten wurde) und seinen Brüdern.  Auch könnte man Frau Schultner empfehlen, etwas im Neuen Testament zu blättern und z.B. das Gleichnis Jesu vom Barmherzigen Samariter zu lesen. Im Anschluss an dieses Gleichnis fragt Jesus: "Was meinst du: Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde?" -

Und die Antwort ist selbsterklärend: Der Ausländer, der Fremde, er wird ins das Himmelreich kommen und nicht der Einheimische und Gleichgläubige. Nein, die Nation, das Blut, die Rasse, die Kultur, ist in der Bibel und im Christentum nicht das Kriterium für Heil und Unheil. 
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Und danach III:
In dem o.g. Beitrag von rbb sieht und hört man, wie AfD-Fans christliche Nächstenliebe interpretieren: "Nächstenliebe ist Nächstenliebe. Nicht Fremdenliebe". 
Quelle: rbb a.a.O.

Haha. Auch hier empfiehlt sich ein Blick in das Neue Testament:

Lutherbibel 1912 Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen.
Textbibel 1899
Ich aber sage euch: liebet eure Feinde und betet für eure Verfolger.
Modernisiert Text
Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen...


Bischof Dröge: "Kein Mensch sagt, dass wir die ganze Welt lieben sollen und nach Deutschland holen. Also das ist doch wirklich, das stimmt ja gar nicht. Sondern ich habe gesagt: Diese Nächstenliebe, wie sie in der Bergpredigt steht, ist ein Zielpunkt, ein Orientierungspunkt mit einem superhohen Anspruch. Das heißt aber, dass wir als Christen versuchen müssen, eine verantwortliche Politik  mit zu gestalten."

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Montag, Mai 15, 2017

Make Europa sozial again!

Klappentext
Das Buch ist neu (Mai 2017), der "Klappentext" offenbar nicht ganz so neu, denn wenn man auf die Webseite des European Democracy Labs geht, dann liest man:

"The seed-funding phase of the European Democracy Lab project ended on October 31, 2016."
Es gibt allerdings einen Hinweis auf eine neue Webseite THE EUROPEAN REPUBLIK.
Dort heißt es:
"Die Europäische Republik ist eine EUtopie (Griechisch εὖ “gut” und τόπος “Ort”) für eine demokratische Zukunft in Europa: Eine Republik, die den politischen Gleichheitsgrundsatz für alle Bürger*innen Wirklichkeit werden lässt. Das Gemeinwohl, res publica, dient hierbei als Leitprinzip einer zukünftigen europäischen Ordnung. [...]
Es gibt einen Plan B für Europa: die Europäische Republik. Wir sind überzeugt, dass sich unser Kontinent in einen postnationalen, wahrlich demokratischen und gerechteren Ort entwickeln kann." [...]

Mai 2017, 99 Seiten, 8 Euro
"Jedem wahlberechtigten Europäer eine Stimme, pro eine Million Stimmen ein Abgeordneter im Europaparlament – so soll das Wahlrecht von Tallinn bis zur Algarve, von Thessaloniki bis Dublin künftig aussehen. 
Als historisches Vorbild führt Guérot die revolutionäre Bewegung des Vormärz Mitte des 19. Jahrhunderts an, die die Demokratie erkämpfte. In diesem Sinne ist der Titel-Begriff „Bürgerkrieg“ zu verstehen. Wie damals um den Nationalstaat finde heute ein Kampf um Europa statt." 

Europa soll durch eine neues Wahlrecht für das EU-Parlament (1 Bürger_in > 1 Stimme) auch gerechter und sozialer werden.

"Denn wer gleiches Wahlrecht fordert, kann dies nicht tun, ohne allgemeine Rechtsgleichheit, damit auch soziale Gleichheit und Gerechtigkeit anzuerkennen. Die Befürworter des neuen Wahlrechts beantworten Marine Le Pens Frage: 
«Wer kümmert sich um die Armen, wenn es die Nation nicht mehr gibt?» 
auf neue Art: Europa wird ein transnationaler Sozialstaat. [...] Diesem Schritt misst Guérot eine ähnlich epochale Bedeutung zu wie der Einführung der Sozialversicherung durch Bismarck. Guérot betrachtet das Wahlrecht als einen Katalysator in einem sozialen Experiment, das gigantische Energie freisetzt. Das Wahlrecht dient ihr als Rammbock, der das Tor in die Zukunft aufstößt." ... 
[Zitat-Quelle
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Die Europäische Union. Basiswissen Politik/Geschichte/Ökonomie Taschenbuch
2. akualisierte und
erweiterte Auflage, 2015,
135 Seiten, 9,90 Euro
"Andreas Wehr beschreibt die Europäische Union als ein fragiles Bündnis. In ihm dominiert das Machtstreben der großen Mitgliedstaaten. Unter ihnen gibt ein erstarktes Deutschland den Ton an. Unter seiner Führung entwickelt sich ein wirtschaftlich starkes Kerneuropa, umgeben von einer schwachen Peripherie." (Klappentext)

Andreas Wehr – ist Autor von Büchern und Artikeln zu Europa, Philosophie und Geschichte sowie zur aktuellen Politik, Mitbegründer des Marx-Engels-Zentrums Berlin und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Europäischen Parlament.

Auch Wehr sieht in der EU, so wie sie gegründet wurde und sich bis heute entwickelt hat, weder ein demokratisches noch ein gerechtes und soziales Gebilde.
Sein fünftes Kapitel steht unter der Überschrift:

V.
Die Europäische Union:
Entdemokratisierung und Sozialabbau. 


Es gibt das Europäische Parlament, welches welches allerdings aufgrund fehlender eigener Rechte kein echtes Parlament ist. [... S. 115f]

Seite 121ff:
Mit den Römischen Verträgen wurden die Binnenmarktfreiheiten —
  • die des Kapital-,
  • Waren-, 
  • Personen-
  • und Dienstleistungsverkehrs — 
 zum Kern der europäischen Integration. Sie werden daher auch als die eigentliche Verfassung der Union bezeichnet.

Es ist eine liberale Wirtschaftsverfassung, die mit der
Einheitlichen Europäischen Akte und mit dem Vertrag von Maastricht ausgebaut und gefestigt wurde.

So sind seit Maastricht alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs bzw. des Zahlungsverkehrs »zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern verboten«.

Als Vertrag von Maastricht wird der Vertrag über die Europäische Union (EUV) bezeichnet, der am 7. Februar 1992 im niederländischen Maastricht vom Europäischen Rat unterzeichnet wurde. Er stellt den bis dahin größten Schritt der europäischen Integration seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften (EG) dar. Mit diesem Vertragswerk, das an die Seite der 1957 geschlossenen Römischen Verträge trat, wurde die Europäische Union (EU) als übergeordneter Verbund für die Europäischen Gemeinschaften, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres gegründet. [Wikipedia]
Seitdem kann sich kein Mitgliedsland mehr gegen einen ungewollten Zufluss bzw. gegen eine Abwanderung von Kapital schützen.
Bis dahin waren die Mitgliedstaaten lediglich dazu verpflichtet, den Kapitalverkehr nur insoweit zu liberalisieren, wie es für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes notwendig war.
Mit dem Vertrag von Maastricht wurde auch die monetaristische Geld- und Konjunkturpolitik zu einem Bestandteil europäischen Vertragsrechts. Die Konvergenzkriterien der Wirtschafts- und Währungsunion legen die EU seitdem auf eine neoliberale Wirtschaftsordnung fest und schließen damit ein keynesianisches Vorgehen aus.
Mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt sowie mit dem Fiskalpakt werden selbst kleinste Abweichungen von dieser monetaristischen Politik der Geldwertstabilität mit Sanktionen belegt. Der Sozialabbau ist damit vertraglich festgeschrieben.
Zugleich soll damit jeder Versuch, die bestehende kapitalistische Wirtschaftsordnung auch nur in Frage zu stellen, von vornherein unterbunden werden.

Eine solche Ordnung war bereits in den dreißiger Jahren von Friedrich August von Hayek, einem der Vordenker des Neoliberalismus, erdacht worden.

Quelle: Wikipedia
Nach seiner Auffassung »gründeten die Probleme Europas im Aufstieg der Volkssouveränität und demokratischer Kontrolle über die Wirtschaftspolitik.

Seine Lösung (...) war eine Europäische Föderation, welche den «demokratische Weg in die Knechtschaft»  versperren würde, indem die europäischen Staaten vertragliche Verpflichtungen zur Beendigung öffentlicher demokratischer Kontrolle über die Wirtschafts- und Sozialpolitik eingehen.
Seine brillante Erkenntnis war, dass unter internationalem Ver­tragsrecht die normalen parlamentarischen Gesetze und Politiken einzelner Staaten unterlaufen werden können. Somit kann ein Vertrag, der innerstaatliche Angelegenheiten betrifft, demokratische Politikgestaltung blockieren.«
Mit der EU wurden diese Überlegungen Hayeks Realität.

Wie den Kampf um die Veränderung führen?

  • Da eine Öffentlichkeit auf europäischer Ebene so gut wie nicht existiert, kann dort auch der Kampf um Demokratie und soziale Rechte nicht erfolgreich geführt werden.
  • Es fehlt schon an einer gemeinsamen Sprache.
  • Auch deshalb gibt es keine echten europäischen Medien. Zwar hat sich das Englische als moderne Verkehrssprache in Europa durchgesetzt, doch wenn es darauf ankommt, finden die entscheidenden politischen und kulturellen Diskurse in den jeweiligen Landessprachen statt und bleiben so voneinander isoliert.
  • Bei den »europäischen Parteien« handelt es sich nicht um Parteien im klassischen Sinne. Es sind lediglich »Parteienparteien«, bloße Zusammenfassungen der jeweils nationalen kon­servativen, sozialdemokratischen, liberalen, grünen und linken Parteien auf europäischer Ebene.
  • Zwar können in einigen dieser Vereinigungen auch Einzelpersonen Mitglied werden, sie sind dort jedoch einflusslos.
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  • Lesen Sie weiter im Buch Seite 123ff
Siehe auch:
  1. Vom Rechtspopulismus, Abgehängten, Arbeiterparteien und der Würde des Menschen
  2. ... wenn der Preis dafür ist, kein Sozialdemokrat mehr zu sein.

Montag, April 17, 2017

Türkei-Referendum. "JA Sager sollten zu ihrem Gott in die Türkei und uns verlassen"

A) Das Wahl-Ergebnis (Stand 17.4.2017)
  • In Deutschland hat keine Mehrheit der TürkInnen mit JA gestimmt. Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu votierten 63 Prozent WählerInnen in Deutschland mit JA. Das bedeutet: Bei einer Wahlbeteiligung in Deutschland von 48,7% haben knapp 31% der 1,4 Millionen wahlberechtigten in Deutschland lebenden türkischen StaatsbürgerInnen für die Verfassungs-Änderung Erdogans gestimmt. 
  • Deutlicher fiel das Ergebnis in Belgien, Österreich und den Niederlanden für Erdogan aus, wo rund 70 Prozent der abgegebenen Stimmen für die Verfassungs-Reform stimmten . -
  • In den USA und in Spanien dominierte dagegen das NEIN-Lager mit etwa 80 Prozent der abgegebenen Stimmen. 
  • In der Türkei hat Erdogan insgesamt 1,3 Millionen mehr (z.T. noch umstrittene) JA-Stimmen als NEIN-Stimmen bekommen. Gewonnen hat er im islamischen-konservativen Anatolien und im europäischen Ausland,
    verloren in den Metropolen Ankara, Istanbul, Izmir, in den Städten Adama, Antalya und Mersin, an den Küsten des Marmara-Meeres, der Ägäis und des Mittelmeers.


B) Ein deutscher Kommentar:
"JA Sager sollten zu ihrem Gott in die Türkei und uns verlassen"

C) Wer ist der Gott der türkischen WählerInnen?
"Der größte Teil der Muslime sind Sunniten, gefolgt von Aleviten, die jedoch in offiziellen Statistiken nicht eigens gezählt, sondern nominell als Muslime verzeichnet werden und deren Anteil unterschiedlich geschätzt wird (siehe unten). Zu erwähnen sind noch die Alawiten (Nusairier) und eine vor allem im Osten der Türkei angesiedelte schiitische Minderheit. Zu den religiösen Minderheiten zählen weiterhin Christen verschiedener Konfessionen, Juden, Bahai, Jesiden, Karäer u. a. Die Minderheitenpolitik der Türkei ist – gerade auch im Zusammenhang der Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union – politisch sehr umstritten. Die Türkei zählt zu den wenigen mehrheitlich muslimischen Staaten, in denen das islamische Recht – die Scharia - nicht gilt. [Quelle]  

D) "Sind Allah und der christliche Gott die selbe Person?"
"Liebe evangelische Kirche,
wir müssen in Religion eine Präsentation zu der Frage "Sind Allah und der christliche Gott die selbe Person?" machen. Könnten sie uns eventuell einige Informationen oder Internetseiten nennen, über die wir etwas herausfinden können? Oder noch allgemeine Informationen über Allah und christlicher Gott. Vielen herzlichen Dank schon im Vorraus" (sic!)
Marco 7. September 2012

E) Die "99 Schönen Namen Gottes" im Islam:



F) Warum haben Deutsch-TürkInnen mit JA gestimmt?
  • Daimagüler: "In meiner Kindheit mussten wir jedes Jahr wie Bittsteller in den Ausländerbehörden anstehen und um unsere Aufenthaltsgenehmigung bangen. Und in der Türkei wollte man uns auch nicht zurückhaben. Erdogan war der Erste, der sich für die Auslandstürken interessiert hat. Die Generalkonsulate wurden zu freundlichen Orten, wo es Infocenter und Kaffeeautomaten gab. Die Auslandstürken erhielten »blaue Karten«, die ihnen wichtige Rechte sicherten: Bis 2008 war Erdogan ein guter Politiker." (Mehmet Daimagüler, geboren 1968 als Sohn türkischer Gastarbeiter in Siegen, arbeitet als Rechtsanwalt in Berlin. Er schrieb das Buch »Kein schönes Land in unserer Zeit« über seine Erfahrungen als Gastarbeiterkind. Daimagüler vertritt Nebenkläger im NSU-Prozess. Quelle: Publik Forum) 
  • „Hier stimmen alle dafür“, sagt Hakan aus Mannheim Jungbusch und meint die Verfassungsänderung. Er trinkt Kaffee in der Bäckerei, die sich im Erdgeschoss der Moschee befindet. Hakan ist froh, dass Erdoğan den Islam stärkt. Seine Frau, die Lippen so rot geschminkt wie die Farbe ihres Kopftuchs, steht neben ihm und nickt. Ab und zu sagt sie etwas auf Türkisch, ihr Mann übersetzt. - Hakan ist 42 Jahre alt, er ist in Deutschland geboren. „Ich bin Türke“, sagt er trotzdem. Die Politik habe Integration mit Assimilation verwechselt. Er erzählt, wie ein Lehrer zu seinem Sohn gesagt hat, Erdoğan sei ein Diktator. „Was sull dan des?“, fragt er empört.
    Man könne mit Deutschen nicht mehr diskutieren. Meinungsfreiheit bedeute, dass man so denken müsse wie die Deutschen, sagt Hakan, aber „meine Seele lebt in der Türkei“. Trotzdem: Zurück will Hakan nicht, er fühlt sich wohl in Mannheim.
    „Weil hier so viele Ausländer wohnen.“
    Warum stimmt er dann für ein System, in dem er selbst nicht leben möchte?
    „Wir wissen, was für uns das Beste ist“, sagt er. (Quelle)  
  • Nazan Kapan: „Erdoğan ist das Sinnbild vom anatolischen Jungen, ein Symbol für Rückständigkeit. Dieser anatolische ‚Bauer‘ ist auch nach Deutschland eingewandert. Die Politik hat nicht verstanden, dass diese Menschen bleiben werden.
    Ich kenne das permanente Abgewertet-Werden“, sagt sie, als Frau, als Türkin, als Muslimin. "Du als Türkin verstehst das nicht", die Grundschullehrerin sagte es zu ihr und sie hört es bis heute immer wieder.

    Für viele Deutschtürken seien solche Erfahrungen ein Grund, für die Verfassungsänderung zu stimmen. „Menschen, die sich permanent in dieser Benachteiligung definieren, suchen nach einer klaren Führungspersönlichkeit.“ Sie selbst stimmt mit Nein, auch wenn sie dafür knapp 70 Kilometer zum Generalkonsulat nach Karlsruhe fahren muss.
    (Nazan Kapan. Die 55-Jährige ist SPD-Mitglied und Gemeinderätin in Mannheim, ihr Vater war einer der ersten Gastarbeiter, sie kam als Kind aus der Türkei hierher. Sie glaubt, Mannheim sei toleranter als andere Teile Deutschland. „Hier ist Vielfalt doch Normalität.“ Trotzdem würde sich jetzt, vor dem Referendum, die Kurzsichtigkeit der damaligen Integrationspolitik offenbaren. Quelle: Gazete)
Hans-Christian Ströbele:
  • Frage; Dieser Tage geht unser Blick in die Türkei. In dem Land gibt es Mitte April ein Referendum über ein Präsidialsystem. Steht die Türkei auf der Schwelle zur Diktatur? 
  • Herr Ströbele: Auf jeden Fall auf der Schwelle zu einem autoritärem und nicht demokratisch-kontrolliertem Regime. Wichtige Institutionen, wie zum Beispiel das Parlament, sind kein unabhängiges Organ mehr, sondern der Willkür des Präsidenten ausgesetzt. Wir erleben aktuell Rechtsverstöße, die völlig ungeahndet bleiben und nicht mal im Parlament und in den Medien problematisiert werden können. Das lässt schlimmes fürchten. Es gibt Leute die sagen, dass Erdogan friedlicher wird, wenn er erst einmal die ganze Macht hat, aber das kann auch täuschen.



    Es sind viele Fehler im Verhältnis zur Türkei gemacht worden.
    Die europäische Perspektive hätte man viel deutlicher den Türken als realistische Möglichkeit anbieten und die Freizügigkeit herstellen müssen, wie es den Türken schon Ende der 60er Jahre versprochen wurde. Leider wurde die Türkei immer als leicht zu behandelnder Partner behandelt. Das war falsch und umso weiter die europäische Perspektive für die Türkei an Relevanz verliert, desto schwieriger wird es für die westlichen Länder mit den Problemen fertig zu werden. Da gibt es nicht nur die Flüchtlingsfrage, sondern auch die Nato. Es kann auf Dauer nicht funktionieren, dass Staaten wie die Türkei auf der einen und beispielsweise Deutschland und Niederlande auf der anderen Seite, die so gegensätzliche Politik betreiben, zusammen in einem Militärbündnis sind. Soll man sich gegenseitig am Nato-Tisch beschimpfen? (Quelle)

Mittwoch, März 22, 2017

Türkei - Deutschland. Mit Erdoğan reden. - Diese ständigen Vorwürfe, ja dieses ständigen Beleidigungen

Aktuell bewegt sich der Dialog auf einem hohen intellektuellen und diplomatischen Niveau:
  1. Türkei an Deutschland: Du Nazi!
  2. Deutschland an Türkei: Selber Nazi.
  3. Deutschland an Türkei: Du bist blöd!
  4. Türkei an Deutschland:  Selber blöd. _______________________________________________

2004 sah jemand die Türkei noch anders:

Das Buch
Nach 150 Jahren demokratischer und sozialer Reformen verkörpere die Türkei ein Modell für andere Nationen und bilde Europas Brücke zur Welt. Ihr Erfolg sei eine Voraussetzung für eine von Fortschritt und Frieden geprägte Zukunft in Europa und im Nahen Osten. - (George W. Bush, damals Präsident der USA, auf einem NATO-Gipfel in Istanbul). 

Das türkische Modell, galt als ein Vorbild für die ganze arabische Welt. In diesem Sinne ist das Modell Türkei wohl erst einmal gescheitert.
"In seinem Buch Das Scheitern des türkischen Modells argumentiert der Soziologe Cihan Tuğal, dass die Ursachen der Krise in der Türkei viel tiefer liegen als in Erdoğans zunehmendem Autoritarismus. -

Der Autor zeigt, wie nach dem Putsch von 1980 mit der Herausbildung einer Generation von islamischen Intellektuellen eine hegemoniale Alternative zum säkularen Kemalismus entstanden ist. In einer vergleichenden Analyse der Dynamiken in Ägypten, Tunesien, dem Iran und der Türkei rekonstruiert Tuğal detailliert den Aufstieg und Fall des türkischen Modells." [Quelle]
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"Der verbale Schlagabtausch tritt an die Stelle der Diplomatie: Was Donald Trump und Recep Tayyip Erdogan damit bezwecken, erklärt uns in Kulturzeit ein Großmeister der Verhandlungskunst: Matthias Schranner hat undercover in der Drogenfahnung gearbeitet und bei Geiselnahmen vermittelt. Heute berät er mit seiner Firma in Zürich Spitzenpolitiker und Topmanager auf der ganzen Welt. Mit ihm sprechen wir unter anderem über die Türkei."

Matthias Schranner in 3Sat-kulturzeit
Schranner:
  • .. dass man keine Verhandlungsbereitschaft zeigt und droht - das wäre aus meiner Sicht der falsche Umgang.
  • Die erste Frage, die man sich immer in einem Konflikt stellen sollte: "Ist das ein Partner, den ich auch in der Zukunft brauche?" - Und wenn ich der Meinung bin, ich möchte mit meinem Partner langfristig arbeiten, dann darf ich nicht hart verhandeln, ich darf konsequent verhandeln. - Was ein riesiger Unterschied ist.
  • Konflike entstehen nicht plötzlich, sie haben immer eine Historie. Es gibt immer einen Zeitstrahl, der zu dieser Auseiandersetzung geführt hat. Und ich denke, es waren sehr viele Kleinigkeiten - scheinbare Kleinigkeiten - die dazu geführt haben, dass jetzt der große Knall gekommen ist. - Und ich denke, man hätte sehr viel früher schon einlenken können. Sehr viel früher das Gespräch suchen müssen. Und auch sehr viel früher bestimmte Spielregeln aufstellen müssen. 
  • Diese ständigen Vorwürfe, ja dieses ständige Beleidigen auch der türkischen Regierung.  Dieses ständige Sagen, dass sie falsch liegen, dass alles, was sie zur Zeit machen, tatsächlich dem europäischen Geist widerspricht. Dass sie sich immer weiter entfernen von Europa. - Also das war weniger hilfreich. - Es wäre sehr viel besser gewesen zu sagen: "Wir haben noch gemeinsame Interessen, lass uns über gemeinsame Interessen sprechen und lass uns Lösungen suchen!"
 
  • Verhandeln ist ja kein Wunschkonzert. Natürlich würden wir uns gerne einen anderen Gesprächspartner wünschen. [...] Aber ist halt nicht so. Und jetzt ist die Frage, wie man mit diesem Menschen umgeht. Und dieser Weg, dieses Drohen, also wirklich diese negativen Behauptungen über andere Regierungen,  sind nicht hilfreich, sondern erschweren dasGanze sogar noch.
  • [...] Diese Dynamik hat dazu geführt, dass Drohung mit Gegendrohung beantwortet werden ... Erdogan mit diesem Nazi-Vergleich. Bitte, ich bin auch nicht der Meinung, dass das ein schlauer Schachzug von Erdogan war, aber er hat`s ja gesagt, und jetzt ist die Frage, wie man damit umgeht.
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Auch anderweitig sind die negotiations nicht so einfach:

Präsident Trump spricht mit Kanzlerin Merkel
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Im Neuen Schauspiel im Großen Haus des Theaters Heilbronn läuft im Frühjahr/Sommer 2017 das Stück
„Pera Palas“ blickt in die Seele der Türkei

"Das neue Schauspiel im Großen Haus entführt nach Istanbul, die faszinierende Weltstadt am Bosporus, in der Orient und Okzident aufeinander treffen. Mitten im Zentrum steht das legendäre Grandhotel Pera Palas, in dem unter anderem Agatha Christie ihren „Mord im Orient-Express“ geschrieben haben soll. Dieses Hotel ist Dreh- und Angelpunkt des gleichnamigen Schauspiels „Pera Palas“ von Sinan Ünel, das in einer spannenden Familiensaga ein Jahrhundert türkischer Geschichte von der Gründung der Republik und den demokratischen Reformen Atatürks bis zum Erstarken des Fundamentalismus in unseren Tagen spiegelt. Angesichts der jüngsten Ereignisse in der Türkei hat das 1995 entstandene Stück geradezu prophetischen Charakter. Es blickt in die Seele des Landes. Gleichzeitig ist es von einer großen poetischen Kraft, voller Geheimnis, Pathos, Tragik, Triumph und Humor.
Jens Kerbel führt Regie. Gesine Kuhn ist für Bühne und Kostüme verantwortlich. Es spielen Anjo Czernich, Stefan Eichberg, Stella Goritzki, Frank Lienert-Mondanelli, Judith Lilly Raab, Paul Louis Schopf, Raik Singer, Tamara Theisen, Sabine Unger, Katharina Voß und Sven Marcel Voss"

Vielleicht ist ein Theater-Besuch entspannend? > Der Spielplan