Montag, April 11, 2011

Alte Bäume wachsen noch. Neue Erfahrungen in späten Lebensjahren.

Nach: Marlis Pörtner, *1933:Alte Bäume wachsen noch. Neue Erfahrungen in späten Lebensjahren.Klett-Cotta 2010. 

Allmählich dämmerte es mir: „Später“ – das war jetzt.
Jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Jetzt konnte ich die Veränderungen noch selber in die hand nehmen und nach meinen Wünschen gestalten. Diese Erkenntnis war ein Schock.


Neulich beim Zähneputzen kam mir auf einmal ein Ge­dicht in den Sinn, das ich vor vielen Jahren geschrieben habe:

Einen Weg gehen
ankommen
und merken
der Aufbruch
beginnt
erst jetzt

Das trifft genau, worum es in diesem Lebensabschnitt geht: sich nicht an irgendetwas festklammern, nicht meinen, es sei jetzt etwas geschafft, und das werde so bleiben - vielleicht wird es das und vielleicht nicht.

Die bereits an anderer Stelle zitierte Formulierung des Psychoanalytikers Erik H. Erikson »Sein, was man gewor­den ist« meint auch: nicht an der Vergangenheit kleben, sondern jetzt leben.
Man kann es auch anders sehen: Veränderungen fordern uns heraus, beleben uns, rufen schlummernde Kräfte wach und erweitern den Horizont. Veränderungen, selbst unlieb­same, bringen uns weiter - wenn wir bereit sind, uns mit wachen Sinnen auf sie einzulassen.

Für alles, was er im Alter verliere, gewinne er etwas hin­zu,
erklärte kürzlich der siebzigjährige Regisseur Peter Stein in einem Radio-Interview.
Beschwerden und Beeinträchtigungen des Alters sind nur die eine Seite der Medaille. Wenn wir unseren Blickwinkel ändern, werden wir auch ihre andere Seite. Den Blickwinkel ändern heißt nicht: wegschauen, sondern im Gegenteil: genauer hinschauen, um verschiedene Seiten altersbedingter Veränderungen wahrzunehmen: die schmerzlichen und die hoffnungsvollen. Dann erkennen wir, dass dieser Lebens­abschnitt nicht nur Verlust mit sich bringt, sondern auch überraschende Entwicklungsmöglichkeiten bereithält. Den Blickwinkel ändern heißt nicht, die Beschwernisse und Un­annehmlichkeiten des Alters und die damit verbundenen Gefühle verdrängen, sondern ihnen ins Auge sehen, sie an­nehmen und versuchen, so gut wie möglich mit ihnen zu leben.

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