Montag, August 08, 2016

Zauberland ist abgebrannt. - Die EU, Rio Reiser, Konrad Adenauer und Carlo Schmid.

Zum Buch
Die Urgroßväter der EU
und die Politiker, die nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs den Kontinent befrieden und einigen wollten, hatten eine Vision.

"Sie wollten nicht das Paradies auf Erden, nicht die klassenlose Gesellschaft, das gewiss nicht. Aber sie wollten sehr Konkretes":

·       "Wohlstand für die Völker" (Konrad Adenauer),
·       ein Europa "der sozialen Gerechtigkeit" (Carlo Schmid).


So schreibt es zumindest der deutsche Journalist  Arno Luik (Jahrgang 1955). - Ob diese Zitate so stimmen und woher sie genau stammen, weiß ich nicht. Nehmen wir mal an, das haben die beiden, also Konrad und Carlo so gesagt - und auch so gemeint.

Als die Europäische Union dann gegründet wurde, 
zunächst mal als "Europäische Wirtschaftgemeinschaft" (EWG), da war ich noch einiges jünger.
"Die Anfänge der EU gehen auf die 1950er Jahre zurück, als zunächst sechs Staaten die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gründeten. Eine gezielte wirtschaftliche Verflechtung sollte militärische Konflikte für die Zukunft verhindern und durch den größeren Markt das Wirtschaftswachstum beschleunigen und damit den Wohlstand der EU-Bürger steigern" [wikipedia
Quelle

Ich selber habe in Erinnerung, dass im Zusammenhang mit der EU damals oft von einem
"Europa der Monopole" 
gesprochen wurde, ich weiß aber nicht mehr, wann das genau war. Und bei Google ist dieses Stichwort offenbar auch verloren gegangen oder verloren gegangen worden: Ich kann es dort nicht finden.
Gemeint war damit:  
Ziel der EWG und später der EU sei bei den Veträgen von 1951/1957/1992/2007
  • eben gerade nicht "Wohlstand für alle Völker" 
  • und schon gar nicht "ein Europa der sozialen Gerechtigkeit", 
  • sondern Wohlstand für alle großen Konzerne Deutschland und Frankreichs, 
freier Kapital-Verkehr durch eine Währung für alle beteiligten Länder, grenzenloser Geldfluss und grenzenlose Fluss für benötigte Arbeitskräfte, freie Fahrt für LKWs und ihre Waren über die europäischen Binnengrenzen.

Und so geschah es.

Dabei fiel auch etwas für die Normal-Bevölkerung ab. 
Nach der Pferde-Spatz-Theorie:

Franz Marc 1908/09
Wenn man die Pferde, die Konzerne, ordentlich füttert, dann kommt hinten für die Spatzen automatisch auch genug heraus:
Gute Löhne, Freie Fahrt in den europäischen Urlaub, keine Staus an den Grenzen, der Eurostecker für Fön und Rasierer passt überall...
 Die BürgerInnen waren es lange Zeit zufrieden. 

"Eine Häufung ungelöster Probleme bestimmt die EU-Agenda dann in der 2010er Dekade. Mit der Eurokrise, der Flüchtlingskrise ab 2015 und dem britischen Austrittsvotum durch Referendum im Juni 2016 steht die weitere Entwicklung der Europäischen Union auf neue Weise grundsätzlich in Frage." [wikipedia a.a.O]  _____________________________________________________


Franz Marc, Der tote Spatz, 1905

Aber: Der Spatz spielt nicht mehr mit. 
Zumindest nicht in Griechenland, Spanien, Porugal, wo die Pferde zwar immer fetter werden, aber immer mehr Spatzen vom Himmel stürzen.
Im reichen Deutschland verhungern die Spatzen noch nicht, die ärmsten unter ihnen bekommen noch Brotsamen vom Staat, die Zeitarbeit, HartzIV und so ähnlich heißen - man fühlt sich relatib sicher, aber auch die gut ernährten Spatzen bekommen es so langsam und mehr und mehr mit der Angst zu tun, dass auch sie einmal hungrig vom Himmel fallen könnten und auf die Brosamen des Staates angewiesen sein werden. Weil die Pferde offenbar doch nicht so automatisch funktionieren: Die Spatzen wählen AfD in Deutschland, steigen in England aus der EU aus (Brexit), in Griechenland versuchten sie den Aufstand (Syriza ...).

Zauberland ist abgebrannt. Der Traum von Carlo und Konrad ist vörläufig aus.

"Ich hab geträumt, der Winter wär vorbei
Du warst hier und wir waren frei.
Und die Morgensonne schien.
Es gab keine Angst und nichts zu verlier'n,
Es war Friede bei den Menschen und unter den Tier'n.
Das war das Paradies.

Ref.: Der Traum ist aus.
Der Traum ist aus.
Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird.

Ich hab geträumt, der Krieg wär vorbei.
Du warst hier, und wir waren frei.
Und die Morgensonnen schien.
Alle Türen waren offen, die Gefängnisse war'n leer.
Es gab keine Waffen und keine Kriege mehr.
Das war das Paradies."
(T/M Misha Schöneberg & Ralph Christian Möbius alias Rio Reise um 1990)
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Der Bericht von Gert Möbius aus diesen Tagen erinnert mich an die heutige Situation:

Deutschland Ende der 1980er Jahre
In der Bundesrepublik hab es kaum noch große Demonstrationen. Jeder kochte mittlerweile sein eigenes Süppchen. Nicht aber im Osten. Da brodelte es schon.
 

Von dort, aus der DDR, bekamen Ton-Steine-Scherben, die es als Band gar nicht mehr gab, und Rio Reiser, die jahrelang von der DDR-Führung nicht akzeptiert, aber von vielen Fans in ihrem Land erwünscht worden waren, plötzlich durch die FDJ [Frei Deutsche Jugend] die Anfrage, 

Zwei Konzerte am 1. und 2. Oktober 1988 in der Werner-Seelenbinder-Halle zu bestreiten.

Diese Halle (sie wurde nach der Wende abgerissen) fasste um die 6000 Zuschauer. Und sie war an beiden Tagen ausverkauft. Außerdem sollte das Konzert zeitversetzt vom Fernsehen übertragen werden. Tatsächlich nahmen das DDR-Fernsehen und der Radiosender DT64 die Konzerte auf, und wir [Brüder Möbius] haben im Jahr 2000 dieses einmalige Dokument aus der Vorwendezeit sowohl in Bild und Ton als auch als DVD und CD des Labels MöbiusRekords einem breiten Westpublikum zugänglich machen können.


Bei dem Song »Der Traum ist aus« kollabierte das Publikum beinahe, 
und Lutz Kerschowski (Ost) und Rio Reiser (West) zum ersten Mal gemeinsam auf der Bühne der Werner-Seelenbinder-Halle. 

Bei dem Refrain: »Dieses Land ist es nicht« 
machten 6000 Menschen ihrem Zorn auf ihre Regierung Luft und trampelten, dass die Halle bebte. Obgleich der Band zugesichert worden war, dass sie keine Eingriffe durch die Zensur zu befürchten hätten, wurde der Song in der Fernsehübertragung nicht gesendet, aus technischen Gründen, wie es hieß. 
Bei Amazon kann man immer noch Kommentare zu den Konzerten lesen: »Man muss sich einfach mal in die Situation der Aufnahme hineinversetzen: 
Hunderte DDR Bürger singen trotz (oder gerade wegen?) Stasibespitzelung den Text mit, in dem Rio fragt: 

>Gibt es ein Land auf der Erde, in dem der Traum Wirklichkeit ist?

Ich weiß es wirklich nicht.

Ich weiß nur eins, und da bin ich sicher

DIESES LAND IST ES NICHT!

DIESES LAND IST ES NICHT!

DIESES LAND IST ES NICHT!<



Und die letzten Zeilen werden vom Publikum aus vollen Herzen mitgesungen und bringen die Unzufriedenheit der DDR-Bürger zum Ausdruck wie wohl niemals sonst. 

Bei jedem Hören dieser Stelle bekomme ich [Gert Möbius] eine Gänsehaut! Das ist mehr als Musik, das ist auf Tonträger festgehaltene Geschichte.
Spätestens da hätte die Stasi anfangen müssen, ihre Akten zu vernichten, wenn sie irgendwie schlau gewesen wären (hinterher ist man immer schlauer).

 Auch wenn beabsichtigt war, der Band >die schönen Seiten der DDR< zu zeigen, 
entging ihnen nicht, dass etwas im Gange war. »Bei der Party wurde über alles Mögliche gesprochen, aber was sich vermittelte, war, dass sich eine Trendwende abzeichnete«, erzählte Rio. »Ich würde im Nachhinein sagen, dass die junge Garde, die FDJ, auf dem Sprung war, die Macht zu übernehmen. 

Ich weiß jetzt nicht genau, wann die Sache mit Freya Klier und Stefan Krawczyk war, '88 oder '89, aber die Oppositionsbewegungen gab es schon. Es war schon zu erkennen, dass sich da irgendwas dreht innerhalb des Apparates.« 

Rio gehörte zu denjenigen, die nach dem Mauerfall, nach der Wende nicht die schnelle Wiedervereinigung befürwortet haben. Er empörte sich darüber, dass versucht wurde, »die ganze Identität zu eliminieren, nach dem Motto: 


>Wir stellen Ihnen eine wunderbare Identität zur Verfügung, die westdeutsche Identität, das heißt Freiheit, also Reisefreiheit, Geld verdienen, Leistung — die können Sie haben, schaffe, schaffe Häusle baue — und verrecke, sagt der Schwabe!< Diese Identität war im Angebot, mit der anderen Identität war es vorbei.
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Der Traum ist aus.
Dieses Europa ist es nicht. 
Dieses Europa ist es nicht.
Dieses Europa ist es nicht. 
Wir stellen Ihnen eine wunderbare Identität zur Verfügung, die EU-Identität, das heißt Freiheit, also Reisefreiheit, Geld verdienen, Leistung — die können Sie haben.  Diese Identität ist im Angebot, mit der anderen Identität ist es vorbei.
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Siehe auch:

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