Samstag, Dezember 04, 2004

"Deutsche Zustände". Erst kommt das Fressen, dann die Moral...

... sagte Bertold Brecht. Auf drastische Art interpretierte er damit die These von Karl Marx, dass das Sein das Bewusstsein prägt:

Fast 60% der Deutschen sind der Meinung, dass "zu viele Ausländer in Deutschland" leben. Zwei Jahre zuvor waren es 5% weniger, die so dachten.

9% mehr als vor zwei Jahren stimmen dem Satz zu: "wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die in Deutschland lebenden Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken."

"Es ist ekelhaft, wenn Homosexuelle sich in der Öffentlichkeit küssen" meinen 37% der Bevölkerung, ebenfalls 5% mehr als vor zwei Jahren.

Und über 10% sagen: "Juden haben in Deutschland zu viel Einfluss" (vor zwei Jahren 6,9%).
62% der Deutschen sind es leid, "immer wieder von den deutschen Verbrechen an den Juden zu hören".

»Deutsche Zustände«, erschienen am 15.12.04 im Suhrkamp Verlag, heißt die neue Studie des "Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung", dessen Leiter Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer ist.
Sie zeigt auf, dass in Deutschland die Zahl der Menschen, die etwas gegen Ausländer, Juden, Homosexuelle und/oder Obdachlose haben, in den letzten zwei Jahren gestiegen ist.

Warum ist das so? Dieses sonst eher in der politischen Rechte erwartete Gedankengut nimmt immer mehr zu bei Leuten, die sich selber eher in der politischen Mitte einordnen.
Die Mittelschichten in Deutschland sind wirtschaftlich bedroht. Menschen, die sich noch vor einigen Jahren ökonomisch abgesichert und anerkannt fühlten, weil sie z.B. einen Job bei einer Weltfirma hatten/haben, bei Opel oder Siemens, bei Daimler oder Hewlett&Packard, merken plötzlich, dass auch ihre Arbeitsplätze bedroht sind, durch verschärfte Rationalisierung und durch die Verlagerung der Produktion in den Osten. Wer sich selber in seiner wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Position bedroht fühlt (Heitmeyer nennt das "soziale Desintegrationserfahrung"), wer soziale Spaltung der Gesellschaft erfährt, ("Aldi oder Armani?"), der wertet andere Gruppen menschenfeindlich ab. Indem ich eine Gruppe abwerte, erreiche ich für mich, dass ich mich und meine eigene Gruppe aufwerte, mir als etwas Besseres vorkomme.

Einen Ausweg sieht Heitmeyer aus seiner sozialpsychologischen Sicht darin, die Desintegrationserfahrung und das Gefühl fehlender Anerkennung der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu verringern.

http://www.uni-bielefeld.de/ikg/




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