Wenn "unsere" Medien heute über China reden ...
oder schreiben, dann handelt das meistens von der chinesischen Wirtschaft, von chinesischen Dissidenten oder Nobelpreisträgern, von fehlender Demokratie und Ein-Parteien-Herrschaft.
Wenig erfährt man darüber, ...
dass es innerhalb der Volksrepublik auch eine intensive und ernsthafte Diskussion über die richtige Gesellschaftsform der Zukunft gibt. Professor Wang Shaoguang von der Chinese University of Hongkong z.B. gehört zu den bekannten Vertretern der "Neuen Linken" in China und hat im März 2011 an der Harvard-Unisversität in den USA an einem runden Tisch zum Thema "Asian Varieties of Socialism: China, India, Vietnam" teilgenommen. Seinen Vortrag kann man auf you-tube anhören und anschauen:
Er entwickelt dort sein Konzept des Sozialismus 3.0. Man kann es auch nachlesen in seinem Buch über das "Chongqing-Modell".
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Wenn wir in Deutschland über "Sozialismus" reden, ...
so denken wohl die Meisten automatisch an den Untergang DDR 1989, an den Untergang der UdSSR und der KPdSU, an das Scheitern des Kommunismus und vielleicht an das Buch des us-amerikanischen Politologen Francis Fukuyama (*1952) "Das Ende der Geschichte", das 1992 in deutscher Sprache erschien:
"Der politische Umbruch in Osteuropa und das Scheitern des Kommunismus als tragfähige politische Staatsform sind Ausgangspunkt von Fukuymas Auseinandersetzung mit der Frage: Ist die Geschichte eine unendliche Wiederholung von Aufstieg und Verfall, oder bewegt sich die Geschichte auf ein Ziel, ein Ende zu? In diesem, in Fachkreisen lebhaft diskutierten Werk, bezieht Fukuyama deutlich Stellung. Die weltweite Durchsetzung der liberalen Demokratie bedeutet für in den Endpunkt der Geschichte."
[Kurzbeschreibung des Buches in amazon.de]
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Für chinesische sozialistische Denker besteht dieses Problem nicht:
Schon früh hatte sich der Gründer der VR China, Mao Zedong, vom sowjetischen Modell getrennt und kam dadurch in Konflikt mit Stalin und der Komintern, die von der UdSSR dominiert war.
- Aus der chinesischen Sicht der Geschichte begann der Aufbau des Sozialismus in China unter Mao Zedong und wurde durch Mao "sinisiert",
- wurde in der Generation nach Mao unter Deng Xiao Ping fortgesetzt ("Sozialismus chinesischer Prägung", Zhōngguó tèsè shèhuìzhǔyì, 中国特色社会主义), hat 1989 durch die Reformen Dengs und die Niederschlagung der Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989 (fast) unbeschadet überstanden,
- wurde nach Deng durch die 3. Generation der Führer der KPCh unter Jiang Zemin fortgeführt und wiederum ergänzt durch das Konzept „Dreifaches Vertreten“ (chinesisch 三个代表 sān gè dàibiǎo),
- danach unter Hu Jintao in der 4.Generation weiter geführt und noch einmal ergänzt: Hu Jintao hat ein Konzept der wissenschaftlichen Entwicklung zu einer harmonischen Gesellschaft entfaltet (sientific development concept); es beinhaltet: 1. klassischen Marxismus, 2. nachhaltige Entwicklung, 3. Soziale Wohlfahrt, 4. mehr Demokratie und als End-Ziel die Schaffung einer Sozialistischen Harmonischen Gesellschaft.
- Seit 2012 regiert nun in China die 5. Generation der Führer der KP unter Xi Jinping.
China befindet sich nach dieser Lesart ...
weiterhin in der Phase des Aufbaus des Sozialismus und man rechnet damit, dass diese Phase noch ein Jahrhundert dauern wird bis China dann schließlich in die Phase des Kommunismus eintreten kann, in die klassenlose Gesellschaft, in der es keine "Ausbeutung des Menschen durch den Menschen" mehr geben solle.
Der marxistische Begriff "Ausbeutung des Menschen durch den Menschen", (im Französischen: l'exploitation de l'homme par l'homme), geht auf den französischen Sozialtheoretiker C. H. de Saint-Simon (1760-1825) zurück .
Kleiner Scherz am Rande:
Über das Scheitern sozialistischer Gesellschaftsformen spottet das bekannte Scherzwort, nach dem der Kapitalismus durch die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen gekennzeichnet sei, während es sich im Sozialismus genau umgekehrt verhalte.
Das chinesische Wort für Kommunismus bedeutet wörtlich ins Deutsche übersetzt übrigens: "Bündnis freier Menschen".
Vom Ende der Geschichte oder vom Ende des Sozialismus ...
ist also nicht die Rede, sondern vom weiteren Aufbau des Sozialismus, auch wenn es zwischendurch (z.B. beim Großen Sprung nach vorn zwischen 1958 und 1961 und in der Großen Proletarischen Kulturrevolution zwischen 1966 und 1976 unter Mao Zedong - vorsichtig ausgedrückt - einige "teleologische Missgeschicke" gegeben habe.
Anmerkung am Rande:Mit dem gleichen Problem der "teleologischen Missgeschicke" haben auch "der Westen" und "das Christentum" zu kämpfen, wenn sie in die Geschichte der Kirche zurück blicken. Stichworte: Kreuzzüge, Hexenverbrennungen, Zwangsmissionierungen in Amerika und anderswo, Sklavenhandel, Konfessionskriege, Juden-Vernichtung ...
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Was bedeutet also nun:
Chinesischer
Sozialismus 1.0
Sozialismus 2.0
Sozialismus 3.0 ?
Chinesischer Sozialismus 1.0:
Von der Gründung der VR China 1949 bis 1978.
Subsistenz-Wirtschaft und alle sind gleich arm.
Die Wirtschaft war auf Selbstversorgung des Eigenbedarfs ausgerichtet (Subsistenz). Das Pro-Kopf-Einkommen lag zwischen 500$ und stieg auf fast 1000$ pro Jahr, es gab eine zentrale staatliche Planwirtschaft, und es wurde großer Wert auf soziale Gleichheit gelegt, z.B. durch die Verteilung von Marken für Produkte des täglichen Bedarfs. Der Staat sorgte für eine Grundversorgung mit Nahrung, Kleidung, Erziehung, Gesundheit.- Eine eigene Armbanduhr und ein eigenes Fahrrad waren noch der höchste Traum.
Der Lebensstandard der Menschen wuchs nur langsam, doch das BIP wuchs immerhin um 6,5% pro Jahr. Der Gini-Koeffiziens lag bei 0,3, was eine sehr gleichmäßige Verteilung des Reichtums innerhalb der Gesellschaft anzeigt. -
Wenn man China und Indien 1949 vergleicht, so gehörten beide damals zu den ärmsten Ländern der Welt mit hoher Sterblichkeitsrate, schlechter Ernährung und schlechtem Bildungssystem. Bis 1978 - so der Ökonom Amartya Sen - hatte die VR China große Fortschritte gemacht - trotz des Desasters des Großen Sprungs nach vorn. (Amartya Sen erhielt 1998 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Wohlfahrtsökonomie und zur Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung.)
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Chinesischer Sozialismus 2.0:
Boomende Wirtschaft, Wohlstand für möglichst Viele, eine halbe Milliarde Menschen aus der Armut holen, Armut lindern.
Nach dem Tod vom Mao Zedong 1976 gab es unter Deng Xiao Ping zwei Ziele: Einerseits, die restliche Armut zu beseitigen und andererseits das private Einkommen und den Konsum für die Mehrheit der Bevölkerung zu erhöhen. Die Planwirtschaft entwickelte sich in Richtung Marktwirtschaft und neben dem Staatseigentum gab es verschiedene andere Eigentumsformen. Die "eiserne Reisschüssel" der ersten Jahre wurde zerschmettert, den "großen Reistopf" der Volkskommunen gab es nicht mehr, die Devise war: Einen Teil des Volkes und einige Regionen als Erste reich werden zu lassen und alle Anderen ermutigen, die Armut abzuschütteln und Wohstand zu schaffen mit allen möglichen Mitteln. Sozialer Wohlstand sollte erreicht werden durch boomende Wirtschaft, Erhöhung des Konsums einer breiten Mehrheit und durch Linderung der Armut auf der anderen Seite.
Es gab spektakuläre Ergebnisse: Das BIP wuchs zwischen 1987 und 2001 jährlich um 9,6% stärker als in den den 30 Jahren zuvor. Das Pro-Kopf-Einkommen wuchs ständig von 1000$ auf 4000$, die große Mehrheit der Bevölkerung war gut ernährt und konnte sich hübsch kleiden. Gemessen an dem Maßstab der Weltbank sank die Zahl der armen Menschen zwischen 1981 und 2004 von 625 Miilonen auf 135 Millionen oder mit anderen Worten: In China wurde eine halbe Milliarde Menschen von der Armut befreit. Die Weltbank: Das Absinken der Zahl der Armen in einer solchen Größenordnung und in solch kurzer Zeit ist in der Geschichte ohne Beispiel.
Es gab auch Rückfälle: Soziale Gerechtigkeit, Arbeiter-Rechte, öffentliche Gesundheitsfürsorge, Umweltschutz, nationale Verteidigung und Anderes wurde vernachlässigt. Die Folge davon: Ein weit verbreitetes Gefühl der Unsicherheit, Ungleichheit, Beschwerden aus der Bevölkerung.
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Auf der Suche nach dem Chinesischen Sozialismus 3.0
Mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 4000$ pro Jahr hat China 2002 das Stadium eines bescheidenen Wohlstand erreicht. Dieses neue Stadium wird, so Wang Shaoguang, die Geburtsstunde einer neuen Version des Sozialismus sein: 3.0.
Es kann jetzt nicht mehr die Haupt-Antriebskraft sein, den privaten Wohlstand und den Konsum zu fördern um eine allgemeine Wohlfahrt zu erreichen.
Der us-amerikanische Ökonom John Kenneth Galbraith (geb. 1908, gest. 2006) schrieb in seinem Buch The Affluent Society (1958; deutsch Gesellschaft im Überfluss, Droemer Knaur 1963-1973), dass die amrikanische Gesellschaft im Überfluss lebte, was die Versorgung mit privaten Gütern und privater Dienstleistung betraf, aber sehr arm war, was die öffentliche Versorgung betraf. Viele Haushalte besaßen schon eine eigene Wohnung, Auto, Kühlschrank, Waschmaschine, Fernsehgerät und Klimaanlage. Aber, so Galbraith, selbst in New York, dem Stolz der Nation, seien "die Schulen alt und überfüllt". Es gibt nicht genug Polizisten, Parks und Spielplätze sind mangelhaft, öffentliche Verkehrsmittel sind überfüllt, ungesund und dreckig, die morgendliche Fahrt zur Arbeit in die Stadt wird zur Qual...
Galbraith plädierte für ein Gleichgewicht zwischen der Versorgung mit privaten und mit öffentlichen Gütern und Dienstleistungen. Die Investitionen des Staates in die öffentliche Versorgung müssten beachtlich gesteigert werden: Für angemessene Schulen, Büchereien, öffentliche Erholungsmöglichkeiten, Gesundheitssysteme, Rechtsberatung...
Ein sozialistisches China müsse das besser machen als die USA.
China sollte Wege finden, verstärkt in Dinge zu investieren, die das Leben der meisten Menschen angenehmer machen, z.B. öffentlicher Wohnungsbau, öffentliche Sicherheit, Umweltschutz, das öffentliche Bildungssystem, Infrastruktur, Kunst und Kultur, Naturwissenschaft und Technik. Wenn für Nahrung und Kleidung gesorgt ist, sollten Wohnen und Transport verbessert werden. Wenn diese vier Dinge ausreichend vorhanden sind, folgen Sicherheit, Ökologie, Gesundheit, soziale Gleichheit.
China habe schon Fortschritte gemacht, so Shaoguang, für 80 Millionen Menschen gebe es einen Mindestlohn, fast 500 Millionen Chinesen in den Städten hätten eine Krankenversorgung und fast 830 Millionen seien auf dem Lande in ein Gesundheitssystem eingebunden. Mehr als 700 Millionen Menschen besäßen eine Altersversorgung. Die Zahl der Sozialwohnungen sei ebenfalls dramatisch gewachsen. Mit anderen Worten: Ein chinesischer Wohlfahrtsstaat nehme Gestalt an.
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Eine Alternative zum freien Markt-Kapitalismus
Es sei nun klar, dass der freie Markt-Kapitalismus nicht "der Endpunkt der ideologischen Entwicklung der Menschheit" sei, wie Fukuyama das in "Das Ende der Geschichte?" proklamiert habe.
20 Jahre nach Fujuymas Artikel im National Interest Nr.16 vom Sommer 1989 habe die BBC in 27 Ländern zwei Umfragen durchgeführt, die rund um die Welt eine große Unzufriedenheit mit dem freien Markt-Kapitalismus aufgedeckt habe:
- 11% der Menschen über alle Länder hinweg meinten, das der Kapitalismus in der gegenwärtigen gestalt gut funktioniere und keine Intervention des Staates nötig sei.
- 23% sagten, der Kapitalismus sei verhängsnisvoll fehlerhaft und müsse durch ein neues Wirtschaftssystem ersetzt werden.
- Die am weitesten verbreitete Ansicht war, der freie Markt-Kapitalismus habe Probleme, die aber durch Reformen und Regulierungen behoben werden könnten, indem der Staat entweder die Groß-Industrien, Gesundheitsversorgung und den Handel stärker kontrolliere oder selber in Besitz nehme.
Mit anderen Worten, so Prof. Shaoguang, der "freie Markt-Kapitalismus" ist gegen den Willen der Menschen.
Die Chinesen glauben nicht an das Ende der Geschichte und erforschen unermüdlich den sozialistischen Weg. Sie werden sich auch nicht auf ihren Loerbeeren ausruhen oder auf dem derzeitig eingeschlagenen Weg festkleben. Sie werden den "Sozialismus mit chinesischer Charakteristik" "upgraden", indem sie weit gefächert mit neuen Modellen der Politik experimentieren. Da Nahrung und Kleidung nicht mehr die Hauptsorge der großen Mehrheit des chinesischen Volkes sind, muss der Chinesische Sozialismus 3.0 seine Investitionen in öffentliche Güter und Dienstleistungen steigern und die Wohlfahrt der ganzen Gesellschaft steigern.
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Links:
- BBC-Umfrage:
Wide Dissatisfaction with Capitalism — Twenty Years after Fall of Berlin Wall - The World Bank:
From poor areas to poor people: China's evolving poverty reduction agenda - Vortrag von Prof. Wang Shaoguang
aus Hongkong an der Harvard-Univerität
Da Nahrung und Kleidung nicht mehr die Hauptsorge der großen Mehrheit des chinesischen Volkes sind... |
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