Mittwoch, August 06, 2014

Toleranz und Akzeptanz. Die vielen Mr. Strunks dieser Welt und die Vernichtungstechnik durch Nachsicht

George, 58, Engländer, arbeitet als Professor für Literatur in Los Angeles/Kalifornien. Er lebt(e) zusammen in einem Haus mit seinem Freund (Jim). Die Nachbarn sind Mr. und Mrs. Strunk.

Mr. Strunk, so vermutet George, würde ihn nur allzugern mit einem einzigen Wort festnageln: schwul. Aber weil wir ja mittlerweile das Jahr 1962 schreiben, darf wohl auch von ihm der Zusatz erwartet werden:
Mir persönlich ist es ja egal, was er treibt, solange er mich in Ruhe läßt.


Selbst die Psychologen sind sich nicht einig darüber, welche Rückschlüsse aus so einer Bemerkung für die vielen Mr. Strunks dieser Welt zu ziehen sind. Tatsache allerdings ist, daß Mister Strunk, einer Fotografie nach zu urteilen, die ihn als Collegestudenten im Football-Dress zeigt, ausgesehen haben muß wie ein Zuckerpüppchen. 

Aber Mrs. Strunk — das sichere Gefühl hat George — nimmt sich bisweilen die Freiheit, von den Ansichten ihres Mannes leicht abzuweichen. Denn sie ist in moderner Toleranz trainiert, der Vernichtungstechnik durch Nachsicht. Sie schlägt einfach ihr Psychologiebuch auf, um in einschmeichelndem Singsang daraus vorzulesen, und schon bringt sie es fertig, das Unaussprechliche aus George auszutreiben. 

Kein Grund für Ekel, stimmt sie an, keine Ursache zu Verdammung. Hier ist nichts vorsätzlich Lasterhaftes am Werke. Das hängt alles von der Erbmasse ab, von frühen Umweltbedingungen (Schimpf und Schande über alle besitzergreifenden Mütter und über diese britischen Schulen mit ihrer Trennung der Geschlechter), von einer gehemmten Pubertätsentwicklung, respektive unterentwickelten Drüsenfunktion. Wir haben es mit einem Kranken zu tun, dem die besten Dinge des Lebens für immer versagt sind, der wohl zu bemitleiden, aber nicht anzuklagen ist.

Manche Fälle, rechtzeitig erkannt, könnten unter Umständen durch Psychotherapie geheilt werden. Die übrigen aber — ach, es ist zu traurig, vor allem, und das müssen wir uns immer vor Augen halten, wenn es bei wahrhaft wertvollen Menschen auftritt, bei Menschen, die der Welt so viel hätten geben können. (Auch wenn sie trotzdem Genies wurden, sind ihre Meisterwerke zweifelsohne entstellt.) Deshalb wollen wir Verständnis zeigen und stets bedenken, daß es schließlich auch die alten Griechen gegeben hat (obschon es sich dort ein bißchen anders verhielt, weil die Griechen ja Heiden und keine Neurotiker gewesen sind).

Wir wollen sogar noch weitergehen und zugeben, daß zuweilen etwas sehr Schönes in dieser Art menschlicher Verbindungen liegen kann — besonders wenn der eine Partner bereits tot ist, oder noch besser, wenn beide tot sind.

Wie gut und herzig würde es Mrs. Strunk zu Gesicht stehen, wenn sie über Jim trauern könnte! Aber Gott sei Dank weiß sie von nichts. Keiner von ihnen weiß etwas. Passiert ist es in Ohio, und die Zeitungen von Los Angeles haben kein Wort darüber berichtet. George hat einfach die Nachricht verbreitet, daß die Eltern von Jim, die nicht mehr die Jüngsten seien, seit längerem versucht hätten, ihn zum Nachhausekommen zu überreden, und daß er nun als Ergebnis seiner kürzlichen Besuchsreise für unbestimmte Zeit im Osten bleiben würde. Das ist so wahr wie das Evangelium. 

Quelle: 
Christopher Isherwood (1904-1986): A single Man (1964)

Gedenktafel in Berlin

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