«Mein Freundin Jenna, die toughe New Yorkerin,
gehörte zu den Berlinern, die bei Regen Fahrrad fuhren oder sich täglich den Berliner Staus aussetzten, nur um der klaustrophobischen Situation in der U-Bahn zu entgehen. Wenn sie es gar nicht vermeiden konnte, suchte Jenna sich einen Platz direkt neben der Tür, schloss die Augen und zählte stumm von 10 herunter. Sie atmete dann achtsam, versuchte es mit Yoga-Techniken. Bestenfalls erreichte sie ihren Zielbahnhof, bevor ihr die Anti-Panik-Techniken ausgingen.
Ich hielt das für einen Tick. Warum eigentlich? Weil ich auch die Ängste meiner Mitabiturienten, Mitbewohner, Mitmenschen lächerlich gefunden hatte. Und diese Ängste bis heute nicht ernst nahm:
Ihre Angst davor,
- dass man bei Facebook nicht lustig oder attraktiv oder interessant genug rüberkommen könnte.
- Dass man beim Tinderdate einem Psycho gegenübersitzen oder selbst total psycho rüberkommen könnte.
- Ihre Angst, nicht genug Follower auf Twitter oder Instagram zu haben und deshalb keine guten Jobs landen zu können.
- Ihre Angst, dass die Wirtschaft in eine weitere Krise rutschen und die drei Kröten, die sie auf die hohe Kante gelegt hatten, bald nichts mehr wert sein könnten.
- Ihre Angst, dass man selber blöde über Ängste rumlamentierte, während ganze Familien in Auffanglagern an der Grenze zu Mazedonien oder Großbritannien im Dreck hausen, und das mitten im (immer noch!) reichen Europa.
- Ihre Angst, dass die jungen Menschen in diesen Auffanglagern verbittert in ihre kriegs- und krisengeschüttelten Heimatländer zurückkehren, sich dort Extremisten anschließen und dann Bomben auf sie werfen könnten, beim Abendessen im Restaurant, der letzten kleine Freude nach Feierabend von ihren Stumpfsinnsjobs.
Ihre Angst, dass sie selbst zu dem werden könnten, was sie nie
sein wollten, nämlich ein angstgesteuerter Hetzer, der in der Einsamkeit der
Wahlkabine das Kreuz bei Parteien macht, deren Grundwerte nicht auf Einheit und
Gleichheit, sondern auf Angst und Abgrenzung beruhen.
- Und vor allem: Ihre Angst, dass sie niemals ein Leben wie ihre Eltern führen könnten. Sicher, friedlich, vorhersehbar, vorsorgend, vollständig, mit Haus, Vorgarten, Terrasse und Auto deutschen Fabrikats. Normal.»
Quelle: Miriam Klein, DAS FÜRCHTEN VERLERNEN. 7 MUTPROBEN, DIE ALLES VERÄNDERN. SUHRKAMP-VERLAG 2016, Seite 208/209. Siehe auch: > Literaturen
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Miriam Stein, * 1977 in Südkorea, koreanischer Herkunft und Adoptivkind deutscher Eltern, hat die Anfänge ihrer persönlichen Geschichte von anderen erfahren: 1977 in Seoul in einer Pappschachtel und in Zeitungspapier gewickelt aufgefunden, Kinderheim und schließlich Adoption nach Deutschland. Ihr Buch "Das Fürchten verlernen" handelt von Alltags-Ängsten, aber vor allen Dingen von den Ängsten ihrer angstkranken Mutter, von Panik-Attacken und Angst-Neurosen der Mutter, aber auch von ihren eigenen Angst-Attacken und wie sie diese loswerden wollte.
Ein gewisses Maß an gesunder Angst ist uns angeboren, sie ist diffus und lässt uns aufmerksam und vorsichtig sein, um potentielle Gefahren rechtzeitig zu entdecken und uns dann vor der eventuell konkret erkannten Gefahr zu schützen: Wenn wir eine konkrete Bedrohung ausgemacht haben, sprechen wir von Furcht. Furcht vor der Giftschlange, Furcht vor dem zu schnell rasenden Auto, Furcht vor dem Mann mit dem Messer, der auf mich zukommt. Wir können uns dann auf unterschiedliche Art und Weise vor der konkreten Gefahr schützen, fliehen oder angreifen, dem Mann das Messer abnehmen oder lieber schnell weglaufen ... .
Wann ist die Angst gesund - und wann sehen wir sie übertrieben oder krankhaft? Wann rettet die Angst mein Leben und wann schadet sie meinem Leben, behindert mein Leben, macht mich krank? Und: Wann ist die Angst vor etwas (im psychologischen Sinn) eine Übertragung oder Verschiebung der Angst von einem Angst-Objekt auf ein anderes? ...
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Ein Vater hatte zwei Söhne. Davon war der ältere klug und gescheit, und was er anpackte, gelang ihm. Der jüngere aber war dumm, konnte nichts begreifen und lernen, und wenn ihn die Leute sahen, sprachen sie: „Mit dem wird der Vater noch seine Last haben!"[...]
Nun geschah es, daß der Vater einmal zu ihm sprach: „Du dort in der Ecke, hör mir zu. Du wirst groß und stark und mußt auch etwas lernen, womit du dein Brot verdienen kannst. Siehst du, wie sich dein Bruder Mühe gibt? Aber an dir ist Hopfen und Malz verloren." „Ei, Vater", antwortete er, „ich will gern etwas lernen; ja, wenn es ginge, so möchte ich lernen, daß mir's gruselte, davon verstehe ich noch gar nichts." [...]
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"Die Menschen in Europa müssen wieder Angst haben."
Dieser Satz steht in einem Text, in dem mehr als 60 Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Medien und Kultur vor einem Krieg mit Russland warnen und eine neue Entspannungspolitik fordern.
Die angespannte Situation Anfang 2017 - nach der Neuwahl eines US-Präsidenten - macht denn Aufruf noch aktueller.
"Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!"
Initiiert wurde der Aufruf schon im Jahr vom früheren Kanzlerberater Horst Teltschik (CDU), dem ehemaligen Verteidigungsstaatssekretär Walther Stützle (SPD) und der früheren Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne). "Uns geht es um ein politisches Signal, dass die berechtigte Kritik an der russischen Ukraine-Politik nicht dazu führt, dass die Fortschritte, die wir in den vergangenen 25 Jahren in den Beziehungen mit Russland erreicht haben, aufgekündigt werden", sagt Teltschik zur Motivation für den Appell. - Unterzeichnet haben den Text zunächst unter anderem die ehemaligen Regierungschefs von Berlin und Brandenburg, Eberhard Diepgen und Manfred Stolpe, der ehemalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel, Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder, Alt-Bundespräsident Roman Herzog und viele andere (siehe dort > Quelle)
In dem Aufruf heißt es am Schluss:
Wir appellieren an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, als vom Volk beauftragte Politiker, dem Ernst der Situation gerecht zu werden und aufmerksam auch über die Friedenspflicht der Bundesregierung zu wachen. Wer nur Feindbilder aufbaut und mit einseitigen Schuldzuweisungen hantiert, verschärft die Spannungen in einer Zeit, in der die Signale auf Entspannung stehen müssten. Einbinden statt ausschließen muss das Leitmotiv deutscher Politiker sein.
>>> Der ganze TextWir appellieren an die Medien, ihrer Pflicht zur vorurteilsfreien Berichterstattung überzeugender nachzukommen als bisher. Leitartikler und Kommentatoren dämonisieren ganze Völker, ohne deren Geschichte ausreichend zu würdigen.
Jeder außenpolitisch versierte Journalist wird die Furcht der Russen verstehen, seit NATO-Mitglieder 2008 Georgien und die Ukraine einluden, Mitglieder im Bündnis zu werden. Es geht nicht um Putin. Staatenlenker kommen und gehen. Es geht um Europa. Es geht darum, den Menschen wieder die Angst vor Krieg zu nehmen. Dazu kann eine verantwortungsvolle, auf soliden Recherchen basierende Berichterstattung eine Menge beitragen.Am 3. Oktober 1990, am Tag der Deutschen Einheit, sagte Bundespräsident Richard von Weizsäcker: "Der Kalte Krieg ist überwunden. Freiheit und Demokratie haben sich bald in allen Staaten durchgesetzt. ... Nun können sie ihre Beziehungen so verdichten und institutionell absichern, dass daraus erstmals eine gemeinsame Lebens- und Friedensordnung werden kann.
Für die Völker Europas beginnt damit ein grundlegend neues Kapitel in ihrer Geschichte. Sein Ziel ist eine gesamteuropäische Einigung. Es ist ein gewaltiges Ziel. Wir können es erreichen, aber wir können es auch verfehlen.
Wir stehen vor der klaren Alternative, Europa zu einigen oder gemäß leidvollen historischen Beispielen wieder in nationalistische Gegensätze zurückzufallen."Bis zum Ukraine-Konflikt wähnten wir uns in Europa auf dem richtigen Weg. [...].
Siehe auch:
"Wir brauchen Antworten auf die wachsende globale Ungleichheit; brauchen Strategien der Sorge, die die Zerstörung der Natur und den Zerfall von Gesellschaften stoppen; eine Politik, die die Spirale der Militarisierung unterbricht und Sicherheit wieder als soziale Frage definiert." [Quelle]
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