Freitag, Juli 06, 2018

Der Eiserne Kanzler, die Eiserne Kanzlerin - Bismarck, Merkel Jogi Löw und "das nervöse Zeitalter"

Quelle
1890:

Die Uraufführung von Hauptmanns Vor Sonnenaufgang am 20. Oktober 1889 und das Erscheinen von Stefan Georges (1868-1933) Hymnen ein Jahr später (1890) lassen sich literaturgeschichtlich zwar als Einschnitt begreifen.
Die wirkliche Zäsur der Epoche aber lag dazwischen: Bismarcks Entlassung im März 1890.
Nach einem kurzen Schock, der freilich im Ausland stärker empfunden wurde als im Reich — »Der Lotse geht von Bord« lautete der Titel der berühmten Karikatur des Punch —, machte sich Aufbruchstimmung breit, die schnell alle gesellschaftlichen Bereiche erfasste. Die Hoffnung weiter Bevölkerungskreise auf einen Umschwung nährte sich aus dem Zauberwort vom »Neuen Kurs«, den Wilhelm II. bald nach seinem Regierungsantritt auf sämtlichen Gebieten von der Sozialpolitik bis zur Bündnispolitik verkündete. Sein selbstbewusstes Auftreten, so empfand es die Mehrheit der Zeitgenossen, entsprach der gewachsenen Bedeutung des Reiches, das binnen weniger Jahre zur führenden Industriemacht in Europa aufgestiegen war.

Die besondere Dynamik, die von dem »persönlichen Regiment« Wilhelms II. ausging, verdankte sich einem ähnlichen Generationensprung

wie dem, der auch in der Literatur zu verzeichnen war. So wie zwischen Geibel und den um 1860 geborenen Jüngstdeutschen eine Zwischengeneration nicht zum Zuge gekommen war, so hatte Wilhelm II. im sogenannten Dreikaiserjahr 1888 nach nur 99 Tagen seinen Vater beerbt und war mit 29 Jahren zum Nachfolger seines noch im 18. Jahrhundert geborenen Großvaters aufgestiegen. Der Modernisierungsschub reichte durch alle Schichten und führte zu einer unerhörten Beschleunigung gesellschaftlicher Prozesse. Jeder wollte bei der in Aussicht gestellten Neuverteilung dabei sein, niemand wollte den Anschluss verpassen.

»Man hat den Eindruck, als säße man in einem Eisenbahnzuge von großer Geschwindigkeit,
wäre aber im Zweifel, ob auch die nächste Weiche richtig gestellt werden würde«, schrieb Max Weber am Jahresende 1889. Zehn Jahre später bilanzierte Georg Simmel: »Durch die moderne Zeit, insbesondere, wie es scheint, durch die neueste, geht ein Gefühl von Spannung, Erwartung, ungelöstem Drängen — als sollte die Hauptsache erst kommen.«"
Die Deutschen wurden reizbar und nervös, Neurasthenie avancierte zur Modekrankheit. Die wilhelminische Ära, das »nervöse Zeitalter« hatte begonnen."
 »Das letzte Jahrzehnt des Jahrhunderts treten wir an im Zeichen der jungen Generation, die, mit ihrem jungen Kaiser unerwartet früh ans Ruder gekommen, mit vollen Segeln in das wild bewegte Zeitenmeer hinaustreibt«, schrieb eine scharfsichtige Beobachterin zum Jahreswechsel 1890/91 in ihr Tagebuch und fügte die bange Frage hinzu: »Wohin?«"
Ein halbes Jahrhundert später war klar, dass der politische und der künstlerisch-geistige Aufbruch eine gegenläufige Entwicklung genommen hatten. 

Quelle:  Thomas Karlauf , 3. Auflage 2007, Seite 96/97


Spiegel-Titelblatt vom 20. September 1982,
auf dem Helmut Schmidt
als scheidender „Lotse“ abgebildet ist,

Dropping the Pilot John Tenniel, 1890,
Quelle



















___________________________________________________

  • "Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie wiederholt ihre Lehren." (Zitat von Richard von Weizsäcker. In der Offizierschule des Heeres, Hannover, 28.6.1990)
  • Aber man muss sehr vorsichtig sein. Geschichte wiederholt sich nicht. Die Konstellationen sind immer andere. Wir steigen nicht zweimal in denselben Fluss. (Der Freiburger Historiker Jörn Leonhard über Sinn und Unsinn historischer Vergleiche. (Wirtschaftswoche 01. August 2014) 
  • Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. (Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, Band 8, "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte", S. 115-123, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1972)
  • „Those who cannot remember the past are condemned to repeat it.”/ Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt/verurteilt, sie zu wiederholen.“ (George Santayana,  1863-1952, The Life of Reason“, Kapitel 12 "Flux and Constancy in Human Nature", im Abschnitt „Continuity necessary to progress“.

Quelle
Fazit: ?


Keine Kommentare: